Tränenspur

Wie kann ich atmen ohne dich?

von

Mitten in der Nacht steht Polizei vor der Tür. Mein Sohn soll bei einem Autounfall als Mitfahrer schwer verletzt worden sein.
Ein Alptraum beginnt, der in unvorstellbarer Dimension jäh alles zerstört, worauf man sein Leben gebaut hat: die Zukunft und den Glauben an das Gute.
Grausame Wirklichkeit, unvorstellbares Leid, der menschliche Supergau. Plötzlich ist es passiert., das, wovor ich so panische Angst hatte, dass ich mich nie damit befassen wollte, niemals: Jemand nimmt mir das Liebste, was ich auf Erden habe: eines meiner Kinder.
Und doch erschreckende Realität, denn nahezu 5000 Verkehrstote gibt es in Deutschland jedes Jahr. Wieviele Eltern warten da vergeblich auf die Rückkehr ihrer Töchter oder Söhne?
Wie kann ich weiterleben, weitergehen, auch nur eine Minute?
Ein grausiger Abgrund droht mich zu verschlingen, der Ort, der früher mein Herz war, ist nun ein Meer aus Blut und Tränen. Ich kann nicht leben, ohne ihn, keinen einzigen Tag.
Und doch funktioniert es. Welch wundersame Überlebensmechanismen da auch greifen mögen, sie tun es. Sekunde für Sekunde, Stunde und Stunde vergeht die Zeit, nimmt keine Rücksicht auf verwundete Herzen oder leere Arme.
Schritt für Schritt lerne auch ich, weiterzukriechen. Suche und finde Kontakt mit dem Sohn in der Anderen Welt über meine Gedanken, fasse neuen Lebensmut und nasche sogar irgendwann wieder an der Freude.
Dann passiert es erneut.Diesmal ist es nicht mein eigener, sondern sozusagen mein Leih-Sohn, den ich eine gute Lebensstrecke begleiten durfte. Wieder ein sinnloser Autounfall. Wieder schuldlos, chancenlos. Und wieder ein junger Sonnenstrahl, der so nie wieder scheinen wird. Nicht für seine Eltern und nicht für mich.
Und leider war auch das noch nicht die letzte Katastrophe in unseren ersten Jahren der Trauer, der Verwundbarkeit.
Was von einem Menschen bleibt, ist nur die Erinnerung in den Herzen, die er berührt hat.
Der Weg dahin zurück ist aber dornig und schwer, denn der Stachel, der sich in die Seele bohrt, heißt „NIE MEHR“.
Trotzdem habe ich mich irgendwann dorthin gewagt, um die Spuren meines Kindes zu suchen und mit in diese Welt zu bringen. Und aufzuschreiben. Meine Erinnerungen und Gedanken an einen wunderbaren, jungen Mann, der gefühlt erst in den Startlöchern zu seinem Leben stand. In Wahrheit aber war er wohl am Ziel angekommen. Auch wenn das so schwer zu begreifen ist. Für mich und alle, die er berührt hat und seither begleitet.