Unerlaubte Entfernung

Erzählung

von

Vielleicht ist er einer von denen, die nicht sterben können, weil sie nicht gelernt haben zu leben – er war immer mit dem gefühl aufgewacht, man hätte ihn zurückgeholt, zurückgeholt aus irgendeinem anderen leben, aus einem alptraum oder dem tod – unerkannt; immer wieder das gefühl, er würde zurückgeholt… Die baracke, in der er sich verborgen gehalten damals, auf der flucht, eine nacht lang, der republik-, der fahnenflucht in einer nacht, die kein ende zu nehmen schien; durch das preßglas der baracke hatte er nur schemen wahrgenommen, auf dem vorplatz, den schatten einer wache, die sich nicht von der stelle rührte, einer wache für dieses stillgelegte lager, dessen umzäunung er mit einem satz genommen – Was für eine flucht, nur um wieder in einem lager zu landen, hier, im stammland der lager, in dem fast jeder irgendeine erfahrung mit einem der lager, die das leben, die ordnung vorhielt, verbinden kann. Im kernland der arbeitslager, außenlager, sammellager, der zv-, pionier- und ernteeinsatzlager… Im kernland der lagermentalität – Generationen in diesem land, die das wort lager nicht mehr hören können. Er hatte immerzu zur tür starren, lauschen, den atem anhalten müssen – am morgen war die wache abgezogen, wenn sie nicht nur eine einbildung gewesen… Später am tage hatte er sich aus dem staub gemacht, dem november-, dem oktoberstaub in der baracke, den nach ihm niemand mehr aufgerührt… Aber vielleicht war er auch geblieben, eine weitere nacht lang, weil es keinen ausweg gab, seine angst keinen ausweg zuließ.? Diese angst, die schon immer übermächtig gewesen (hier, in diesem land, in dem wir das lügen verlernt!), die kindliche angst vor der lücke im zaun, in der sein fuß stecken bliebe, während die, die ihm vorangesprungen, schon in den gärten jenseits der lücke wilderten… Diese angst vor jeder übertretung, grenzüberschreitung, und die fluchten, die daraus folgerten und gescheitert waren, im vorhinein gescheitert an dieser lücke, in der sich sein fuß verklemmte, der schuh… Mag sein, daß er ihnen wieder zugelaufen war, wie ein schaf, ein kalb, tage später… (sag’ mal, kommst du vom mond?). Oder sie ihn aufgegriffen haben, auf einem der bahnhöfe im lausitzer becken, zu vorgerückter stunde, weil er die orientierung entgültig verloren, sie vielleicht nie besessen hatte…

In der Sprache eines anderen, in der Sprache von einem, der anders war, der nicht dazu gehören konnte, auch wenn er wollte, den die Partei nicht aufnimmt, der sich dem Streben der Eltern fügen will, ihnen aber ihre Überzeugungen nicht glauben kann – in einer Sprache, die so anders ist als die in ihr beschriebenen Erziehungsmaßnahmen, Verhaltensmaßregeln, Zurichtungen, Weisungen und Verhältnisse – in dieser anderen Sprache ist ‚Unerlaubte Entfernung‘ der Bericht einer Entwicklung hin zu einer versuchten und gescheiterten Republiksflucht. ‚Er hat das Gefühl, es gehe im Leben vor allem darum, sich als schuldfähig zu erweisen. Daß er schuldig sei, zumindest pflichtschuldig, u.a. zu permanenter Dankbarkeit verpflichtet… vermittelt ihm die familiäre Erziehung ebenso wie die schulische. Sein Lebensanspruch kulminiert in dem Ziel, ortbar zu bleiben, für sich, für Andere, in einer Gesellschaft, die das Klassenbewußtsein, das WIR einer behaupteten Genossenschaft als Vorleistung, Prämisse über den Einzelnen gesetzt hat. In einer Gesellschaft, deren Bürger sich zu einem großen Teil im Stillen von ihr, vom Leben selbst absentiert haben – Die Lebenslügen der Obrigkeit verquicken sich mit denen von unten… und bilden eine fatale Einheit, die die Gesellschaft, den Einzelnen aller Perspektiven zu berauben droht. Damals hatte er empfunden, in einer Wirklichkeit, einem Raum zu leben, bar jeglicher Geschichte, Entwicklung, ein für allemal statuiert, entgültig…‘
Nach 15 Jahren äußerer und innerer Veränderung der sie umgebenden Republik wie der eigenen Person ist Jayne-Ann Igel, geboren 1954 in Leipzig und heute in Dresden lebend, nach zwei Büchern zur Zeit der Wende mit der hier vorgelegten Erzählung wieder auf die literarische Bühne zurückgekehrt – fast ein Debüt also, eine Prosa, so andeutungsfein genau wie das Metronom der Poesie, das in ihr tickt.