Meine ersten ernstzunehmenden
Klangerlebnisse waren
Geräusche der Natur: das Rauschen
eines Bachlaufes oder das
Rascheln der Blätter, durch die
der Wind strich, das entfernte
Krähen eines Hahnes, das
Trommeln der Regentropfen,
ja, manchmal auch das zarte
Summen der Nebel, die im Herbst
über den Feldern standen.
Der Klang der alten Rathaus –
glocke, wenn sie die Stunden
schlug, war jedes Mal ein be –
sonderes Ereignis. Sie schlug
einmal für die Viertelstunde,
zweimal für die halbe Stunde und
so weiter. Besondere Freude
machten mir die vollen Stunden
um zwölf Uhr am Mittag, und
falls ich noch wach war, um
Mitternacht. Da schlug die Glocke
besonders lange, für mich waren
es kleine Konzerte, die meinen
Kinderalltag in klingende
Kulissen verwandelten. Wenn ich
heute diese Glocke höre, klingt
ihr Ton schräg. Aber es ist ein
schöner, ein schräger Ton, den ich
mir sehr gut in einem Konzert
von John Cage vorstellen könnte. ————– Rüdiger Heins ist Dozent für
kreatives und literarisches
Schreiben. Er schreibt Sachbücher,
Romane, Theaterstücke
und führt Regie. Er ist Mitherausgeber
des Literatur- und Kunstmagazins
eXperimenta.
Für seine schriftstellerische
Arbeit erhielt er Preise und
Stipendien, so den Heinrich-
Vetter-Literaturpreis.
- Veröffentlicht am Montag 24. Oktober 2016 von Wiesenburg
- ISBN: 9783956324079
- 168 Seiten
- Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur (ab 1945)