Verborgene Glut

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Im Osten brach der Himmel purpurn auf und drängte die herannahende Finsternis der Nacht zu-rück. Gleich darauf türmten sich Wolken eines Herbstorkans über der Stadt unheilvoll aufeinander, der Himmel färbte sich stahlgrau und tauchte ganz München in gespenstische Dunkelheit. Auch das noch verbliebene Licht veränderte sich mit einem Schlag und malte bizarre Schatten an die Fassade des Verlagshauses Mauritz im Osten der Stadt. Blitze zuckten und wurden von mächtigen Donnerschlägen gefolgt; es schien, als wolle die Welt in einer nahenden Apokalypse untergehen. An diesem Nachmittag hatte der maltesische Autor Mr. Les Johnson urplötzlich für einige Verwirrung im englischen Lektorat des Ver-lagshauses gesorgt. Er lehnte die Abgabe des zweiten Teils seines Lehrbuchs strikt ab. Das Manuskript zu diesem Buch war längst fällig, das Lehrbuch im Herbstprogramm des Verlags groß angekündigt. Johnson begründete seine Verweigerung damit, dass er noch keinen Autorenvertrag erhalten habe. Die Ausarbeitung solcher Verträge oblag der Lektorin Lauren Simoni, sie sollte sich der Sache Johnson so schnell wie möglich annehmen. Genauigkeit zählte zugegebenermaßen nicht gerade zu Laurens Stärken – obwohl es ihr dennoch so vorkam, als hätte sie diesen Vertrag längst abgefasst. Statt dies nachzuprüfen oder den Vertrag endlich auszufertigen, saß sie untätig auf ihrem Bürostuhl, die Finger in ihre langen Haare gegraben, und fragte sich, wo der Mann, den sie liebte, wohl gerade sein mochte. Seit Monaten reiste Samir quer durch Europa und hielt es nicht für nötig, „der Frau seines Lebens“, wie er sie nannte, mehr als lediglich einige Postkarten zu schicken, allesamt nur mit einem knappen Gruß oder seinem fast unleserlichen Signum versehen. Hatte er sie etwa bereits verlassen und nun nicht den Mut, ihr dies offen zu sagen? Sie kämpfte gegen das nagende Gefühl des möglichen Verlassenseins an, trat ans Fenster ihres Büros und blickte hinaus in den tosenden Sturm. Wie lange würde Samir wohl noch verreist sein?
Lauren Simoni hatte eine gute Figur, ein wunderschönes Gesicht und große, ausdrucksvolle Augen. Oft ohne es wirklich zu beabsichtigen, verdrehte sie Männern mit ihrem beherzten und frischen Humor den Kopf. Auch durch ihre sehr lebendige Mimik und Gestik fiel sie auf: Mal erschien sie einfach unkonventionell, ein anderes Mal geradezu mysteriös. Sie konnte ihr Gegenüber verwirren, indem sie mitten in einem Gespräch aufhörte, persönliche Fragen zu beantworten und in einer blumigen Sprache weiter-
redete, als wolle sie etwas geheim halten.
Draußen ließ der Wind weiterhin den Regen gegen die Fensterscheiben trommeln, die Äste junger Bäume vor dem Verlagsgebäude bogen sich im Sturm, der Nachmittag wurde fast zur Nacht, und die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, hasteten mit eingezogenen Köpfen durch das Unwetter. In Laurens Inneren toste ein ganz ähnlicher Sturm. Wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte sich Samirs Verhalten einfach nicht erklären. Er behauptete beharrlich, seine Reise sei ausschließlich beruflicher Natur: „Sollte mir dieses Geschäft gelingen, verspreche ich dir, dass wir genug Geld haben werden, um unser Leben richtig zu genießen. Dann kann ich dir jeden Wunsch erfüllen!“, so hatte er ihr erklärt – und das wohl nicht nur, um sie zu beruhigen: Er strahlte eine derartige Selbstsicherheit aus, als ob er seinem Ziel bereits sehr nahe gekommen wäre.
16 Wochen dauerte Samirs Tour durch Europa bereits, und nie zuvor hatte sich eine Zeit in Laurens Leben derart lange angefühlt. Als Samir sich am Morgen seiner Abreise von ihr verabschiedete, hatte er beiläufig gesagt, er sei in Kürze wieder zurück. Gestern nun hatte sie ihn angerufen und ihn gebeten, bald nach München zurückzukehren. Lauren betrachtete noch eine Weile das Wüten des Sturmes draußen, bis das Läuten des Telefons sie aus ihrem Grübeln riss. Erschrocken zuckte sie zusammen und wartete, bis das Telefon wieder verstummte, denn sie hatte schlichtweg keine Lust, sich heute noch eines beruflichen Problems anzunehmen. Erst als das Telefon erneut klingelte, nahm sie widerwillig den Hörer ab.
„Hallo, meine Liebste!“, hauchte Samirs Stimme an anderen Ende der Leitung. „Wie ich dir gestern versprochen habe, ist mein Flugzeug gerade in München gelandet. Ich fahre jetzt nach Hause und warte dort sehnsüchtig auf dich!“ Seine Stimme klang wie immer, voller Glut und so vertraut. Wie vom Donner gerührt stand Lauren für einige Sekunden mit geöffnetem Mund da und konnte nicht antworten. Un-fassbar, Samir war zurück! Wie konnte es sein, dass er ihrer Bitte, doch endlich zurückzukommen, gefolgt war, ohne ihr gestern Genaueres zu sagen?
„Es scheint mir, als würdest du dich gar nicht freuen, dass ich wieder da bin?“
„Du bist tatsächlich in München? Das kann ich gar nicht glauben!“, rief Lauren schließlich aus. Ihre Au-gen waren freudig weit geöffnet, ihr Gesicht drückte Jubel und Zweifel zugleich aus.
„Versprechen, die ich gebe, halte ich, und nur so kennst du mich auch – oder etwa nicht?“, erwiderte Samir in einem ziemlich vorwurfsvollen Ton. „Eine dringende Sache steht hier im Büro noch an; sobald ich sie erledigt habe, komme ich zu dir nach Hause!“ Lauren legte auf, versuchte, ruhig zu bleiben, und wurde gleichzeitig von nicht zu bändigenden Gefühlen durchströmt, die ihr den Atem verschlugen, gegen die sie machtlos war. Ihre Welt drehte sich auf einmal mit rasender Geschwindigkeit. Oder war sie selbst es, die in ihrer eigenen Welt rotierte, in der es in diesem Moment nur sie und Samir gab?
Seit einigen Jahren verband sie beide eine glühende und zugleich immer wieder leidvolle Liebe. Ohne dieses einzigartiges Gefühl – davon war Lauren fest überzeugt – konnte sie nicht mehr leben: Ihre jüngsten Beziehungswunden waren zwar keineswegs verheilt; dennoch gierte die junge Frau nach Samirs Zärtlichkeiten, nach seinen Berührungen, seinem erregenden Atmen, seinem Herzschlag, der vor Leidenschaft raste – ja, Lauren verzehrte sich allein schon nach seiner bloßen Anwesenheit.
Nichts auf der Welt gelang Lauren so schnell, wie aus vollem Herzen zu lieben. Dass sie sich in einem mit Samir häufig auch äußerst schmerzvollen Beziehungslabyrinth nach und nach verirrte, hatte sie viel zu spät erkannt, als sie bereits gefangen war in einem aus Emotion und Ekstase gewobenen Netz, das sich unaufhaltsam um ihre Individualität schnürte, bis es sie schließlich eng umschlungen hielt.
Nun stand sie nach dem Telefonat in ihrem Büro, im tiefen Zwiespalt zwischen dem geliebten Mann und ihren Verlagsverpflichtungen, wo ihre Emotionen keinen Platz hatten. Sie entschied sich kurzerhand, beides unter einen Hut zu bringen, auch wenn ihre beruflichen Aufgaben mit einem Mal vollkommen nebensächlich geworden waren. Nichts hätte sie in diesem Moment lieber getan, als hinaus in Sturm und peitschenden Regen zu rennen und sich ihrem Liebesrausch hinzugeben. Dennoch nahm sie sich zusammen, und nach nur zehn Minuten und zwei kurzen Telefonaten hatte sie erreicht, dass Frau Rizzo, die Lektorin des aufgebrachten Autors Les Johnson im Verlagshaus, versprach, den Vertrag zu über-prüfen und in die Post zu geben.
Es war wichtig, dass dieser Autorenvertrag noch vor der Rückkehr ihres Vorgesetzten Herrn Martin von einer Dienstreise abgeschickt wurde: Der dünn-häutige Skeptiker nörgelte recht lange selbst beim kleinsten Fehler. Zudem pflegte er seine Zurechtweisungen in Anwesenheit anderer anzubringen.
Lauren atmete tief durch. Jetzt hatte sie endlich den Rücken frei, räumte gehetzt ihren Schreibtisch auf, griff nach Mantel und Tasche und lief hinaus. Ihr Gesicht glühte, sie eilte übermütig durch die Gänge des Verlags, pfiff dabei ein Lied von Joe Cocker, „Don’t let me be misunderstood“, stürzte sich in den strömenden Regen und war nach wenigen Augenblicken bereits völlig durchnässt. Lauren schlüpfte unter der Bahnschranke hindurch und erreichte so die S-Bahn in Richtung Innenstadt in allerletzter Sekunde. Atemlos sprang sie hinein, setzte sich und schloss die Augen, um sich jetzt nur noch die Erfüllung ihrer Liebe und ihrer Begierde und vielleicht auch all ihrer Hoffnungen vorzustellen: Würde sie Samir endlich an sich binden und davon überzeugen können, dass es für sie beide nichts Schöneres gab als ein Familienleben mit Kindern? Draußen wütete der Sturm unvermindert. Lauren öffnete die Augen wieder. Ein hoffnungsvolles Lächeln überstrahlte ihr Gesicht, und ihr Herz pochte vor Aufregung laut: Der Mann ihrer Träume war tatsächlich wieder zurück! Alles sah danach aus, als würde sie ihm doch sehr viel bedeuten. Ihr Körper sehnte sich nach seiner Nähe, und ihr starkes Begehren, das so lange nicht gestillt worden war, wuchs ins Unermessliche. Dennoch fieberte Lauren der Begegnung mit Samir mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits war es ihr größter Wunsch, ihm sofort um den Hals zu fallen, ihm alles zu verzeihen und in seinem schwarzen lockigen Haar zu wühlen. Andererseits verlangte eine innere Stimme von ihr, ihn dafür zu bestrafen, dass er sie so lange allein gelassen hatte: Samir würde seine Lebensweise als Bohemien zukünftig ändern müssen, oder sie würde ihm mit der Scheidung drohen. Jetzt aber wollte sie ihn einfach sehen und dann ihre Zweisamkeit genießen.
Ihre Beziehung hatte bereits gewisse Brüche: Zweimal hatte Lauren schon all ihre Sachen gepackt und war kurz davor gewesen, Samir zu verlassen. Einmal war er fest entschlossen zu gehen. Doch jedes Mal hatte die starke Verbundenheit zwischen ihnen gesiegt. Eine verdammt schwierige Situation, dachte sie, die zu regeln viel Geschick verlangte. Plötzlich erschrak sie bei dem Gedanken, dass sie ihm womöglich vollkommen verfallen war. Aber sie würde ihm im Laufe des kommenden Abends einfach ein paar Fragen stellen, seine Antworten abwarten und dann intuitiv entscheiden, wie es weitergehen könnte.
Sie lehnte sich in ihrem S-Bahn-Sitz zurück und versank in Erinnerungen. Samirs und ihre Liebe war für Lauren auch deshalb so kostbar, weil sie sich nach wie vor ein wenig fremd fühlte in Deutschland. Vor fünf Jahren hatte sie ihr Weg aus dem Südosten Europas, aus dem serbischen Vršac nach München geführt. Noch sehr jung verließ sie ihren Heimatort, ein Provinzstädtchen, rund 80 Kilometer nordöstlich von Belgrad gelegen. Belgrad, die „weiße Stadt“ an jener mythischen Kreuzung von Okzident und Vorder-
orient, von sieben Hügeln umschlossen und an der Mündung zweier Flüsse, Donau und Save – das „Tor zum Balkan“.
Sowohl Lauren als auch Samir waren im Dezember 1974 nach München gekommen, allerdings aus verschiedenen Richtungen, in verschiedenen Zügen und mit verschiedenen Plänen. Unmittelbar danach wurden per Gesetzerlass die Grenzen geschlossen, und aus osteuropäischen Ländern war keine Einreise mehr möglich.
Lauren war ihren Eltern nachgefolgt und kam nach München, um zu studieren; Samir war gekommen, um eine Arbeit aufzunehmen. Sie sprach bereits gut Deutsch, während ihm die Sprache noch fremd war. Sie dolmetschte für ihn, verhandelte mit den Behörden und boxte u.a. durch, dass sein Führerschein umgeschrieben wurde. Er führte sie aus, kutschierte sie mit seinem alten blauen VW durch die Gegend, ging mit ihr auch schwimmen oder tanzen und begeisterte sie für Spanien, seine Musik und seine Sprache – und ganz besonders für Flamenco.
Samir entlockte Lauren ungekannte Gefühle und stillte ihre bis dahin ungeahnten sexuellen Sehnsüchte. Sie lebte sie intensiv aus, was ihr Selbstbewusstsein stärkte. Und sie hatte großen Gefallen gefunden an diesem bislang unentdeckten Reich tief in ihr, das jetzt keine Kompromisse mehr zuließ.