VII Anthologien

Eine Anthologie

von

Einem Vorschlag von Andreas Okopenko verdankt die vorliegende Anthologie ihre Entstehung. Es ist die vierte Gedankensammlung der ‚Edition Splitter‘, die sich nach ‚Hypochondria‘, ‚Schreibrituale‘ und ‚Leidenschafften‘ mit einem weiteren Aspekt existentieller Befindlichkeiten im 21. Jahrhundert auseinandersetzt.
Am Anfang war das Chaos. Ein unübersichtlicher Haufen von Manuskripten, Emails mit teilweise nicht zu öffnenden Anhängen in exotischen Dateiformaten, Photographien, Bilder, Skizzen. Das kleine Verlagsbüro in der Wiener Salvatorgasse drohte aus allen Nähten zu platzen. Es fehlte an Ablageflächen und Stauraum. Es wurde gestapelt, gesichtet, geordnet, erwägt, verworfen.
Über dreihundert Einsendungen erreichten die Herausgeber. Schon bei der ersten Durchschau der eingelangten Beiträge wurde klar, daß vor allem die jüngere Generation von Kunstschaffenden keine klare Trennlinie mehr zwischen Chaos und Pedanterie zieht, sondern daß diese beiden scheinbar konträren Erscheinungsbilder der Lebensführung zusehends einander bedingen, sich auseinander entwickeln und dabei gleichzeitig wieder ineinander übergehen und sich so als Vexierbild der heutigen Lebensgestaltung entlarven. Den Pedanten im herkömmlichen Sinn, den pathologischen Ordnungsfanatiker mit der Tendenz zum Zwangsneurotiker, gibt es in der reinen Form der Fallstudie ebenso wenig wie den heillosen Chaoten. Es hat sich ein Mischtypus herausgebildet, der das Chaos zur Stilisierung seines Selbst benötigt, und der gleichermaßen der Ordnung als Zurüstung seines Ichs bedarf. Deutlich tritt dabei die immanente Bedürftigkeit des Menschen nach Absicherung seiner fragilen Persönlichkeit gegenüber den unüberschaubaren Zusammenhängen außerhalb seiner selbst zutage. Im Umgang mit Chaos und Ordnung erweisen sich die Versuche der individuellen Selbstbestimmung, der keine Selbstdefinition vorausgegangen ist, als linkische Experimente mit Lebensformen und Gestaltungsprinzipien, deren Ziel mehr das haptische Er- als das mentale Begreifen von Welt ist. Die Welt, in die man blickt wie in Aspik, will in den Griff bekommen sein, als hätte alles einen Henkel.
So spannt sich der Bogen der Beiträge von Fiederike Mayröckers Diktum der Zerstücktheit der Wahrnehmung, Anselm Glücks skurriler Weiterführung von Wittgensteins Logik in eine individuelle Alltagslogistik und Gerhard Rühms Akribie historischer Beweisführung über die Bestandsaufnahme chaotischer Lebensum- wie zustände, die Beschreibung, Schilder- ja, Beschilderung sowie Ab-Bildung chaotischer und pedantischer Lebensprinzipien bis zur nüchternen, ernüchternden und ausgenüchterten Betrachtung des Phänomens durch die kulturphilosophische, sozial- und geisteswissenschaftliche Linse.
Ausschlaggebendes Kriterium für die Auswahl der Beiträge war den Herausgebern, wie auch bereits in den vorangegangenen Anthologien die größtmögliche Divergenz der Blickwinkel und Perspektiven. Mancher Beitrag, auf den ersten Blick der Problemstellung gerecht werdend, erwies sich nach mehrfacher Diskussion als Blickfang und enttarnte sich als Klischee, dieses Schutzschild gegen die gnadenlose Erkenntnis. Einige vordergründige ‚Themenverfehlungen‘ erwiesen sich auf den zweiten – den suchenden, den pedantischen, den beharrlichen – Blick als gelebte Annäherung an das Thema.
Für die Herausgeber war die Arbeit an dieser Anthologie zugleich auch ein Lernprozeß. Persönliche Einstellungen mussten revidiert, Lebensstandpunkte überdacht werden. Die Herausgeber danken allen für die Beteiligung an dieser Anthologie und wünschen ihren Leserinnen und Lesern das schönste Moment einer Lektüre – das lustvolle Wiedererkennen.