Vor dem Fenster unten sind Volk und Macht

Russische Poesie der Generation 1940-1960, zweisprachig

von

Russische Poesie der Generation 1940 – 1960 Ausgewählt und übersetzt von Robert Hodel zweisprachig, 472 S. Mit Texten von: Michail Ajsenberg, Juri Arabow, Natalja Asarowa, Sergei Birjukow, Arkadi Dragomoschtschenko, Sergei Gandlewski, Igor Irtenjew, Nina Iskrenko, Alexander Jerjomenko, Witali Kalpidi, Jelena Kazjuba, Konstantin Kedrow, Swetlana Kekowa, Bachyt Kenschejew, Timur Kibirow, Nikolai Kononow, Wiktor Kriwulin, Juri Kublanowski, Juri Kusnezow, Eduard Limonow, Andrei Monastyrski, Olesja Nikolajewa, Aleksei Parschtschikow, Dmitri Prigow, Lew Rubinstein, Sergei Sawjalow, Iwan Schdanow, Jelena Schwarz, Olga Sedakowa, Sergei Stratanowski, Aleksei Zwetkow. Diese Anthologie versammelt jeweils sechs Texte aus unterschiedlichen Schaffensphasen russischer Dichterinnen und Dichter, die zwischen 1940 und 1960 geboren sind. Die ältesten Gedichte stammen aus den frühen Sechzigern, die jüngsten aus dem 21. Jahrhundert. Damit gewährt die Anthologie einen repräsentativen Einblick in fünf Jahrzehnte russischer Poesie. Vielfältig spiegelt sich in ihr auch das sprunghafte politische Geschehen vom Chruschtschowschen Tauwetter bis zur zweiten Amtszeit Putins wider. Jedoch nicht nur die unterschiedliche Einstellung zum Lauf der Geschichte wird in diesen Texten manifest, sie lassen auch die sich verändernde westliche Sicht auf die russische Literatur nachvollziehen. Wurde manch ein Dichter in den Siebzigern für seine antisowjetische Haltung gefeiert, galt er – wenn er seinem Credo treu blieb – in den Neunziger Jahren als nationalkonservativer Vertreter Russlands. Wer sich tiefgründig für die Kultur und das geistige Klima Russlands interessiert, kommt an dieser Anthologie nicht vorbei. Robert Hodel: geb. 1959 in Buttisholz (Luzern), studierte Slavistik, Philosophie und Ethnologie in Bern, Sankt Petersburg und Novi Sad. Seit 1997 ist er Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Aus dem Vorwort Die vorliegende zweisprachige Anthologie vereinigt russische Dichterinnen und Dichter, die zwischen 1940 und 1960 geboren sind. Jedes lyrische Werk ist mit sechs Gedichten aus unterschiedlichen Schaffensphasen vertreten. Die ältesten Gedichte stammen aus den frühen Sechzigern, die jüngsten aus dem 21. Jahrhundert. Damit gibt die Anthologie einen Einblick in die Entwicklung eines jeden einzelnen Dichterwerks und wirft zugleich einen repräsentativen[i] Blick auf fünf Jahrzehnte russischer Poesie. Das kulturelle Leben der sowjetischen Sechziger Jahre ist politisch geprägt durch die Chruschtschowsche Reformpolitik, die am 20. Parteitag 1956 offiziell beschlossen wird und mit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ gewaltsam endet. Zentral für das Bewusstsein dieser „Tauwetterphase“ (ottepel‘)[ii] sind die Haltung gegenüber Stalin, die zwischen einem vollkommenen Bruch und der Anerkennung gewisser Verdienste schwankt, und die breit geteilte Hoffnung, dass ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ möglich ist. In diesen Jahren findet eine ganze Reihe verbotener russisch-sowjetischer Autoren den Weg zu ihren Lesern zurück – unter ihnen große Namen wie Michail Bulgakow, Andrei Platonow, Isaak Babel, Juri Olescha, Ossip Mandelstam oder Marina Zwetajewa. Auch öffnet sich das Land gegenüber westlichen Kulturströmungen wie dem italienischen neorealistischen Film (Rosselini, Visconti, Fellini), dem französischen Existenzialismus (Camus, Sartre), dem „Théâtre de l’Absurde“ (Beckett, Ionesco), dem Jazz, der avantgardistischen Malerei oder den Werken von Hemingway, Faulkner und Böll. In dieser Atmosphäre entstehen Filme wie Michail Kalatosows „Die Kraniche ziehen“ (Letjat žuravli, 1957) oder Andrei Tarkowskis „Andrei Rubljow“ (1966), es öffnen Juri Ljubimows „Theater an der Taganka“ und Oleg Jefremows „Sowremennik“ („Zeitgenosse“) ihre Tore und es erklingen Schostakowitschs späte Symphonien und Alfred Schnittkes neuer Kompositionsstil. Frühe Wegmarken einer neuen Prosa sind u.a. Michail Scholochows Erzählung „Menschenschicksal“ (Sud’ba celoveka, 1956), die mit dem Tabu des Kriegsgefangenen bricht, Tschingis Aitmatows „Dshamilja“ (1958) – eine Liebesgeschichte zwischen einem Jüngling und der kirgisischen Titelfigur, deren Ehemann an der Front kämpft, und Alexander Solschenizyns Lagerprosa „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ (Odin den‘ Ivana Denisovica, 1962). Noch in der Tauwetterphase liegt auch der Beginn der „Dorfprosa“ (derevenskaja proza) eines Fjodor Abramow, Wassili Below, Walentin Rasputin, Wassili Schukschin und Wiktor Astafjew, die sich an den traditionellen Werten des untergehenden dörflichen Lebens orientiert und für diesen Untergang die sozialen und ökologischen Missstände der russischen Provinz verantwortlich macht. Im großstädtischen Milieu angesiedelt wiederum ist die „Stadtprosa“ (gorodskaja proza) eines Wassili Aksjonow, Juri Trifonow, Andrei Bitow oder Wladimir Makanin, die sich der konfliktuösen Entwicklung urbaner Jugendlicher und ihren Interessen jenseits des kollektivistischen Wertmaßstabs zuwendet. Zu den treibenden Kräften des Geisteslebens gehört vor allem aber auch die Lyrik. Sie befreit sich noch in den Fünfziger Jahren vom sozrealistischen Primat des Kollektiven, um sich auf ihren angestammten Bereich des Emotionalen und Intimen zurückzubesinnen. Die Bewegung erfasst nicht nur die Debütanten der Ära Chruschtschow, sondern auch die drei älteren Generationen, die mit den Namen Anna Achmatowa, Arseni Tarkowski und Alexander Twardowski verbunden sind. Mit der jüngsten Generation der Debütanten kommt es zu einem eigentlichen lyrischen Boom. Neben dem psychologischen Naturalisten Boris Sluzki und dem elegischen Barden Bulat Okudschawa sind es vor allem die „Schestidesjatniki“ (Generation der Sechziger) Jewgeni Jewtuschenko, Robert Roschdestwenski und Andrei Wosnesenski, die den Geist des politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs am unmittelbarsten vertreten. Ihre Poesie füllt ganze Konzertsäle und Stadien. Jenseits der Popularität und meist auch jenseits der Offizialität steht in dieser Zeit eine lyrische Bewegung, die an die politisch verfolgte Avantgarde der 1930er Jahre anknüpft. Ihre wichtigste Figur ist der tschuwaschische Dichter Gennadi Aigi. Wie seine Mitstreiter Wladimir Kasakow und Wiktor Sosnora beruft sich auch Aigi auf den russischen Futurismus, insbesondere auf Welimir Chlebnikow und Aleksei Krutschonych, im Unterschied jedoch zum historischen Futurismus ist die Poesie dieser zweiten Avantgarde betont antiutopisch. Anstelle des „neuen Menschen“, den noch Wladimir Majakowski im Auge hatte, strebt ihre Dichtung zu einer ursprünglichen Sprache oder einem kulturellen Unterbewusstsein zurück. Sind die „Schestidesjatniki“ von der Generation der hier vertretenen Dichter eher als Gegenpol erfahren worden, ist der Einfluss der zweiten russischen Avantgarde auf Autoren wie Konstantin Kedrow, Aleksandr Gornon, Jelena Kazjuba, Sergei Birjukow, Ry Nikonowa, Anna Altschuk oder Natalia Asarowa offensichtlich. Davon sprechen auch die Begriffe „Neoavantgarde“ und „Trans-“ oder „Postfuturismus“, mit denen ihre Dichtung meist bezeichnet wird. Eine zweite neoavantgardistische Bewegung der Tauwetterphase stellt die „Lianosowo-Schule“ um Genrich Sapgir, Igor Cholin, Wsewolod Nekrassow, Jewgeni Kropiwnizki und den etwas jüngeren Eduard Limonow dar, der 1967 zu den Treffen im Moskauer Datschenvorort Lianosowo stößt. Auch diese Schule, die sich auf die avantgardistische „Vereinigung der realen Kunst“ OBERIU (Ob“edinenie real’nogo iskusstva; mit Daniil Charms, Alexander Wwedenski und Nikolai Sabalozki) beruft, verfolgt eine antiutopische Richtung. Sie liegt in einer Ästhetik des Niederen, die in einen scharfen Kontrast zum offiziellen Glanz der sowjetischen Selbstdarstellung tritt. Die sprachliche Seite dieser Profanierung nimmt hierbei bereits Züge des „Moskauer Konzeptualismus“ vorweg, der sich in den Siebzigern entfaltet. 1964 wird der reformbereite Chruschtschow als Generalsekretär abgesetzt, zwei Jahre später nimmt sein Nachfolger Breschnew den Titel des Generalsekretärs an, den vor ihm nur Stalin führte, und 1968 beginnt mit dem Einmarsch in Prag und der Begrenzung der Souveränität der Ostblockstaaten (Breschnew-Doktrin) die Zeit der „Stagnation“ (zastoj). Zwar hatte es auch unter Chruschtschow massive Einschränkungen des Geisteslebens gegeben – so konnte Pasternaks „Doktor Schiwago“ 1957 nur im Ausland erscheinen oder wurde Gennadi Aigi wegen eines „feindseligen Gedichtbandes“ 1958 aus dem Komsomol und anschließend von den russischen Verlagen ausgeschlossen – unter Breschnew jedoch kommt es zu einer offenen Konfrontation mit dem Staat. Es beginnt die Zeit der Desillusionierung, der Dissidenz, der Ausweisungen, des illegalen Selbstverlags (samizdat) und „Dortverlags“ (tamizdat). So kommt Iossif Brodskis erster Gedichtband 1965 in Washington heraus, Andrei Platonows Roman „Tschewengur“ 1972 in Paris, daselbst ein Jahr später Solschenizyns erster Band des „Archipel Gulag“, und Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ (Kolymskie rasskazy) 1978 in London. Die „dissidentische“ Literatur wird jedoch nicht nur „dort“ – jenseits des Eisernen Vorhangs – gelesen, sie dringt über diplomatische und private Kanäle auch in die UdSSR ein. Sie wird illegaler Teil des russischen Geisteslebens und beeinflusst oppositionelle wie offizielle Kulturschaffende. Damit schreitet die Unterwanderung des Primats des Staates in der Kunst ungeachtet der politischen Stagnation voran. Die sozrealistische Doktrin, deren Zukunftsglaube immer unglaubhafter wird, löst sich weiter auf. Offizielles Zeichen dieser Lockerung ist eine Deklaration aus dem Jahre 1975, die den Sozrealismus zum „offenen System von Formen wahrheitsgetreuer Widerspiegelung des Lebens“ erklärt. Symptomatisch für die Situation ist auch, dass Prozesse gegen Dissidenten – zu den ersten Angeklagten gehören Iossif Brodski (1964), Andrei Sinjawski und Juli Daniel (1966) – immer heftigeren öffentlichen Widerstand erwecken, der nicht mehr erfolgreich unterdrückt werden kann oder nicht mehr gewaltsam unterdrückt werden will. Ein Flaggschiff dieses Widerstands ist der Atomphysiker Andrei Sacharow, der 1970 das „Komitee zur Durchsetzung der Menschenrechte“ (Komitet prav celoveka v SSSR) gründet und 1975 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Sehr oft jedoch bedeutet für die Kulturschaffenden politischer Widerstand schlicht, dass sie sich dem offiziellen Kulturbetrieb entziehen. Juri Kublanowski, der 1965 die inoffizielle literarische Vereinigung SMOG (Smelost‘, Mysl‘, Obraz, Glubina: Mut, Gedanke, Gestalt, Tiefe)[iii] mitbegründet, die sich bereits 1966 wieder vor der Auflösung sieht, schildert diese Haltung so: „Wir waren die Generation, die auf die Poeten des ‚Tauwetters‘ folgte. [.] SMOG wurde für mich zur Schule des Nonkonformismus. Wir lehnten Publikationen in sowjetischen Zeitschriften und Verlagen ab, weil wir die sowjetische Literaturmaschinerie als Teil eines propagandistischen totalitären Apparats verstanden. Wir orientierten uns von vornherein am Samisdat und schufen unsere eigene ‚parallele‘ Literatur.“[iv] Einen ähnlichen Weg verfolgt auch die Gruppe „Moskauer Zeit“ (Moskovskoe vremja) um Bachyt Kenschejew, Aleksei Zwetkow, Alexander Soprowski und Sergei Gandlewski. 1973 bringt sie einen ersten maschinengeschriebenen Almanach heraus, dem fünf weitere Nummern (mit einer Stückzahl von jeweils 6-10) folgen. Gandlewski deutet die Nonkonformität dieser Gruppe auf einer philosophischen Grundlage: „Man kann von einer kategorischen Ablehnung des Sowjetregimes sprechen: von der Überzeugung, dass sich das Leben nicht in der objektiven Realität [.] erschöpft, weil hinter ihm ein Geheimnis steht [.]. Wir liebten die literarische Tradition und zugleich misstrauten wir dem Snobismus der ‚Werthüter‘ und ‚Opferpriester des Heiligen’“[v]. Ungeachtet ihres Interesses für eine Welt jenseits des dialektischen Materialismus zeichnet sich diese Moskauer Gruppe stilistisch durch Prosaizität und Genauigkeit der Aussage wie auch durch ein ausgeprägtes Formbewusstsein aus (man vgl. aus der vorliegenden Sammlung Kenschejews Gedicht „Wenn kalte Tage kommen.“ oder Zwetkows „Iwan der Schreckliche sendet an Kurbski.“). Eine frühe poetische Strömung der Breschnew-Zeit, die in die meisten Literaturgeschichten Eingang findet, ist die „Stille Lyrik“ (Tichaja lirika) – mit Autoren wie Nikolai Rubzow, Anatoli Schigulin, Wladimir Sokolow und Stanislaw Kunjajew. Der Name der Strömung erschließt sich aus der Abgrenzung von der Estradenpoesie der „Generation der Sechziger“. Beriefen sich die Letzteren auf den Revolutionspoeten Majakowski, bietet nun der in sowjetische Ungnade gefallene „Bauerndichter“ Sergei Jessenin Orientierung. An die Stelle von Publizität und politisch-sozialem Reformwillen treten Zurückgezogenheit und Elegizität, dem Streben nach einer gemeinsamen menschlichen Zivilisation machen Ideen von einer Volkskultur und einer ethisch-religiösen Erneuerung Platz. Wie bei der „Dorfprosa“ bildet auch hier der schreiende Zwiespalt zwischen der offiziellen Darstellung des sowjetischen Lebens und der täglichen Erfahrung von Willkür, Doppelmoral und Mangelwirtschaft den Nährboden für ethische Forderungen. Von den hier versammelten Dichtern wird der „Stillen Lyrik“ einzig Juri Kusnezow zugerechnet, das Interesse für eine geistige und ethisch-religiöse Erneuerung teilen jedoch eine ganze Reihe weiterer Autoren, wie sehr sie sich auch poetologisch oder ideologisch voneinander unterscheiden mögen (vgl. Olesja Nikolajewas „Müllhalde“, Olga Sedakowas „Weder mit dem Hasenohr.“ oder Jelena Schwarz‘ „Spatz“).