Weiße Schatten – White Shadows

von ,

Dieser erste ins Deutsche übersetzte Gedichtband der bedeutenden litauisch-australischen Dichterin Lidija Šimkutė lässt eine Lyrik entdecken, die dichte Atmosphären schafft – Verse, die in ihrer Knappheit, in ihrer Reduktion auf essentielle Pinselstriche kaum etwas „sagen“ müssen, um viel mehr zu zeigen; die wie der Rahmen sind, der einen Raum aufspannt, in dem das Wesentliche – zwischen den Zeilen – zu spüren ist.

„Wenn man einen ersten Blick auf ein Šimkutė-Gedicht wirft, wird Schweigen spürbar“, schreibt ihr Übersetzer Christian Loidl. „Die Gedichte tun ihre Wirkung rascher, als das Nachdenken einsetzt.“ In Šimkutės Lyrik geht es um Elementares, um die Essenz: Der Mensch / die Frau angesichts von Wandel, Alleinsein, Liebe, Landschaft, Sprache und Sprachgrenzen. Themen, die weder neu noch überholt sind. Ihr Wert jedoch steht und stürzt mit der Fähigkeit, statt des Bekannten die Entdeckung zu setzen, statt der Beliebigkeit die Intensität. Šimkutės Texte verbinden Leidenschaft mit Abstraktion, Reduktion mit Konkretheit. So erschöpft sich die Sprache nicht in der Abbildung, noch verliert sie sich im Formlosen. Sie bewegt sich an der Grenze zum Verschwinden wie die Buto-Tänzerin über dem Abgrund.

„MEIN GEHEIMNIS

eine brüchige Sehnsucht

In Händen

Weiß

Zefallendes Papier.“

Reicht Sprache als Ausdrucksmittel überhaupt, oder ist sie nur eine andere Art von Stummheit? – An vielen Stellen besitzt Šimkutės Dichtung eine Art von Mehrdeutigkeit, die mystische Sprache auszeichnet. Metaphysisches und Physisches sind nicht klar zu trennen, bezeichnen eins das andere. Ebenso offen sind die Grenzen zwischen Subjekt und Landschaft.

„AN MEINEN GEHEIMEN ORTEN
Schlagen die Welen des Meers

In den Wellen des Meers
fließt der Anfang.“

Sakrales und Natürliches, Vitales und Spirituelles verweisen aufeinander oder sind identisch. Vielgebrauchte, bekannte Worte werden zum Vehikel des Unbekannten, so wie die Bezeichnung des Vorhandenen auf das Fehlende, die Leere verweist:

„Still

Begegne ich
Deinem Nicht-Sein

Ich berühre Gras
Blätter von Bäumen
Einen Stein

Aber sehne mich dass
Es du bist der
Mich berührt“

Christian Loidls Übersetzung ist kongenial, und mehr als das: Seine lange Seelenfreundschaft mit der Dichterin befähigt ihn, ihre Absichten an Stellen, wo die englische Sprache sie im Unklaren lässt, im Deutschen deutlicher hervortreten zu lassen, sodass die Lektüre beider Fassungen zusammen zuweilen ein drittes, vollständigeres Bild ergibt.
Eine lyrische Entdeckungsreise in archaisch-existentielle Erlebniswelten, die das Herz berühren, weil sie so schonungslos das Brechen des eigenen Herzens; die tiefe Sehnsucht nach Überwindung der durch das Ich konstituierten Trennung konfrontieren – die manchmal dort gelingt, wo das Gedicht jenseits der Worte führt.