Aufgrund der revolutionären Lage in Russland – Nadja Strasser hatte die Oktoberrevolution in ihrem Buch nicht mehr verarbeiten können – war diese Behauptung tatsächlich nicht aus der Luft gegriffen. Russische Frauen waren gegen Mitte und Ende des vorletzten, zu Beginn des letzten Jahrhunderts revolutionärer als andere, emanzipierter. Sie waren wissbegieriger: Die ersten Frauen, die an den liberalen Schweizer Universitäten studierten, kamen aus Russland. Sie waren weitgereister: Insbesondere die Jüdinnen unter ihnen kamen auf der Suche nach besseren und gewaltfreien Lebensverhältnissen in die USA, nach Kanada und nach Argentinien. Und niemand hatte die Revolte und den Tod romantischer verklären können als diejenigen jungen Russinnen, die unter sich um das Recht gelost hatten, ein Attentat begehen zu dürfen. So heißt es in einem der zahlreichen Bücher, die über die russischen Sozialrevolutionäre verfasst worden sind: Die Gruppe „[.] ‚Narodnaja Wolja’ (Volkswille) schuf eine straff organisierte Geheimgesellschaft mit einem Exekutivkomitee an der Spitze. Jedes Komiteemitglied war verpflichtet, wie Vera Figner in ihren Erinnerungen schreibt, alle Geistes- und Seelenkräfte der revolutionären Sache hinzugeben, um ihretwillen alle Familienbande, Sympathien, Liebe und Freundschaft aufzugeben; wenn nötig, das Leben zu opfern; nichts zu besitzen, das nicht gleichzeitig der Organisation gehörte; seinem individuellen Willen zu entsagen und ihn den Mehrheitsbeschlüssen der Organisation unterzuordnen; alle Angelegenheiten, Pläne und Absichten der Organisation geheim zu halten.“2
Das war ein hartes Programm. Es brachte Vera Figner, die zu allem bereit war, mehr als zwanzig Jahre Kerkerhaft ein. Vera Sassulitsch, die 1878 auf einen General geschossen hatte, hatte Glück, wurde von einem Geschworenengericht freigesprochen und konnte in die Schweiz ins Exil gehen. Doch im Sommer des Folgejahres beschloss das Exekutivkomitee von ‚Narodnaja Wolja’ den Zaren zu töten. Der siebte Versuch am 1. März 1881 war erfolgreich. Entschlossen betrat die im Zusammenhang mit dem Attentat verurteilte Sonja Perowskaja noch im selben Jahr das Gerüst, auf dem sie gemeinsam mit vier männlichen Genossen gehängt werden sollte. Sie war die erste Frau Russlands, die öffentlich exekutiert wurde.
Doch das war erst der Anfang. Noch 1973 bezeichnete sich Clara Halpern in einem Gespräch mit dem US-amerikanischen Anarchismusforscher Paul Avrich als Maximalistin, also als ehemalige Angehörige einer radikalen Gruppierung. Sie war 1888 in eine wohlhabende Familie in Tschernigoff hineingeboren worden, aber aufgrund ihres Mitleids mit der bäuerlichen Bevölkerung zu allem entschlossen. Und dann war das Revolutionsjahr 1905 ein aufwühlendes Erlebnis für sie gewesen: „Die ganze Stadt war auf den Beinen,“ erzählte sie Avrich, „um gegen den Zaren und die Autoritäten zu kämpfen. Es war ein wundervoller Anblick! Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre sprachen zu uns Studenten und versuchten, uns in ihre Organisationen zu ziehen.“3
Clara Halpern ging in die Gegend um Minsk, um als Lehrerin zu arbeiten, und wurde von den Sozialrevolutionären angeworben, von denen sich bald eine radikale Gruppe abspaltete, die sogenannten „Jungen“ oder die „Maximalisten“, wie sie sich später bezeichneten. „Die ‚Jungen’ lehnten den parlamentarischen Kampf und Teilreformen ab,“ erklärte Clara Halpern „und sie begannen eine terroristische Kampagne gegen die Polizei und Regierungsvertreter.“4
Entschlossenheit zeichnete jedoch nicht nur Sonja Perowskaja oder Clara Halpern aus, die bei dem Versuch, das Polizeihauptquartier in St. Petersburg zu sprengen, gefasst wurde, aber mit zwei Jahren Gefängnis davonkam, wenn auch nicht alle bereit waren, so weit zu gehen wie diese beiden Frauen.
Das vorliegende Buch möchte die Lebenswege und Stationen einiger ihrer Landsmänninnen aufzeigen, die für ein revolutionäres, ein unangepasstes Leben stehen. Es handelt von russischen Studentinnen in der Schweiz und von Anarchistinnen bzw. Sozialrevolutionärinnen in Russland wie Dora Kaplan5 und Maria Spiridowa. Es folgt einigen von ihnen (wie den Schwestern Witkop) nach London und Berlin, stellt Menschewikinnen im Exil vor und berichtet von den Aktivitäten jüdischer Russinnen in den USA, im Umfeld der jiddischsprachigen und anarchistischen Publikationen wie Fraye Arbeter Shtime, Vanguard oder Challenge. Dass ich mich dabei auf die Anarchistinnen und Anarchosyndikalistinnen konzentriere und ihnen den meisten Raum gebe, beruht auf meinem Forschungsinteresse an einem Gegenstand, den ich für vernachlässigt halte. Schon lange wollte ich einmal ein Buch über die Geschichte von Anarchistinnen lesen, das über allzu Bekanntes – wie das Leben und Wirken der berühmten Emma Goldman oder die gleichfalls berühmt gewordenen Mujeres Libres in Spanien – hinausgeht. Ich habe es nicht gefunden und kam zu dem Schluss, dass ich es, mit allen Einschränkungen, wohl selbst schreiben muss. Mit allen Einschränkungen, weil meine finanziellen Verhältnisse mir enge Grenzen gesetzt haben. Man müsste zu den Archiven reisen, sich tagelang dort herumdrücken und teure Kopien anfertigen lassen. Mit allen Einschränkungen, weil ich leider kein Russisch oder Jiddisch spreche, was für das Thema eigentlich notwendig wäre. Ich erhebe also nicht den Anspruch, ein fundamentales Grundlagenwerk zu schaffen, sondern nur den, Interesse zu wecken an einem bedeutenden Teil der internationalen Arbeiterbewegung, der lange vernachlässigt worden ist. Möge, wer möchte, weiterforschen und –arbeiten über die Geschichte der vornehmlich russischen Revolutionärinnen anarchistischer Prägung.
- Veröffentlicht am Freitag 26. Juni 2009 von Verlag Edition AV
- ISBN: 9783868410136
- 103 Seiten
- Genre: Geschichte, Neuzeit bis 1918, Sachbücher