„Dieser Roman enthält in hohem, in außergewöhnlichem Maße, etwas, was man heute in vielen Romanen vergeblich zu suchen bemüht ist.: er ist voll göttlichen Geistes. Dieser Roman ist eine geistige Tatsache, wenn man darunter eben das zu verstehen geneigt ist, was die russische Studentin und Revolutionärin Sonja Dr.Wildeisen als Definition gibt, indem sie ihm sagt: ‚Nur wenn das Göttliche sich in irdischen Taten auswirkt, darf man von Geist reden.‘ Dr.Wildeisen erklimmt vermöge seines Talentes und seines Fleißes und nicht zuletzt auch durch Lidia, seine selbstlose Frau, die ihm ihr Vermögen zum Bau einer eigenen Klinik zur Verfügung stellt, als Chirurg die höchsten Stufen des Ruhmes. Doch neben seinem materiellen und gesellschaftlichen Aufstieg geht im selben Grade ein seelisch-geistiger Niedergang einher. Er liebt Sonja, die nach Sibirien verbannt ist; er will, er muß sie vergessen. Und er vergißt dabei auch das Fünkchen Zartgefühl, Mitleid und Achtung für Lidia, das noch in ihm war. Er verliert das Gefühl für alles Menschliche, er wird zum Phraseur, zum Snob, sinkt zum Zyniker herab. Kaum, daß er sein eigenes Kind beachtet. Und dieser Mann kommt nach fast einem Lebensalter zur Erkenntnis, die höher und wertvoller ist, als die exakteste Naturwissenschaft, zu einer Erkenntnis, die alle seine bisherigen nominalistischen Grundsätze über den Haufen wirft, nämlich: daß im Menschen Kräfte wirken, die seinen Leib aufbauen und erneuern, die nicht mit dem Mikroskop erkannt werden können (weil es geistige Kräfte sind), Kräfte, die über das Leben hinaus andauern, und die doch so real sind, wie der menschliche Leib selber. Man könnte sich fragen, ob dies in Wirklichkeit bei einem Menschen möglich sei, der auf nichts als die Materie schwört – wären in diesem Roman nicht Zusammenhänge, auf die hier hinzuweisen versucht werden soll. Es sind die karmischen Beziehungen, durch welche Dr.Wildeisen mit den übrigen Gestalten des Romans verbunden ist. Diese Verbundenheit wird weniger durch darauf hinweisende Worte als durch die ganze Komposition des Romans evident. Die kleinste Handlung hat ihren tieferen Sinn, jeder Ausspruch seine besondere Bedeutung. So kommt es, daß hier kein einziges überflüssiges Wort niedergeschrieben ist. Der Roman „Wildeisen“ ist ein Weg zur Erkenntnis. Zur Erkenntnis des Menschen, zur Erkenntnis des Lebens überhaupt. Vornehmlich sind es hier die Frauen, welche die Erkennenden und die Wegweisenden sind, nicht nur weil sie die allein wahrhaft Liebenden sind – sie werden durch ihr Leiden dazu bestimmt, seine Ursachen und tieferen Zusammenhänge zu ergründen. Sie bewahren daher auch eher als der Mann in sich ein Urwissen, ein Ahnen der kosmischen Strömungen und Einflüsse; denn sie töten ihr inneres Wissen nicht durch ein mechanisches Denken, sie denken immer mit der Seele. Sie sind Trägerinnen des Lebens und doch dem Tode näher. – Was und wie hier vom Tod und besonders vom Krieg gesprochen wird, ist tiefe Wahrheit, welche für den, der sie nun einmal gehört oder gelesen hat, genügen müßte, seinem Leben eine neue Wendung zu geben oder die, falls er noch nicht reif dafür ist, ihn dazu bringen müßte, sein Leben lang darüber zu meditieren. Dieser Roman Albert Steffens ist eine einzige große Meditation über das Leben – über das Leben, das mit der Geburt in eine neue Wandlung tritt und das mit dem Tode nicht aufhört.“ (Carl Lamm in „Literarische Umschau“, Wochenschrift der „Badischen Presse“, Nr. 21, Karlsruhe 15.10.1930).
- Veröffentlicht am Freitag 7. November 1969 von Schöne Wissenschaften
- ISBN: 9783858890801
- 329 Seiten
- Genre: Belletristik, Erzählende Literatur