„Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur, ‚Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.’ Eines Tages sagte er zu mir, ‚Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses bei anderen Liedern der Fall war.’“ So berichtet Josef von Spaun, einer derer, die vorgaben, ‚Freund’ mit Schubert gewesen zu sein, über die Ent-stehung von dessen ‚Winterreise’.
So führte denn der Titel ‚Winterreise’ per se zu einer ‚schauerlichen’ Anthologie? Nein doch. Schon die Öffnung der Thematik ins Schubertlose, Unüberbaute, evoziert Wintergedicht und Reisebericht, zart, kauzig, spannend zuweilen, doch schauerlich kein bisschen und selten angreifend. „Er reist, und es ist Winter. Nein, keine Winterreise! Es gibt einen Unterschied zwischen einer Reise im Winter und einer Winterreise.“ Eine Neunzehnjährige, Alva Lütt, fetzt uns diese Erkenntnis ins Stammbuch, so apodiktisch-lässig, dass uns ein spontanes „Bravo!“ entfährt. Entfahren will. Den Einspruch bringen an Denker, die etwas von ihrer Causa verstehen, und mithin den Subtext zu entlarven wissen, der im Winter mitschwingt wie im Reisen – selbst im Reisen per Flieger nach Kairo, selbst im schrägsten Witz einer Situation „nachts um drei am Arsch der Welt.“
Womit wir dann doch wieder bei Schubert wären und seiner ‚Winterreise’. Manch einem, der sie inhaliert hat (wie ein Asthmatiker sein Cortison, ein Bergsteiger sein Ozon), stellt sie sich dar als Ausformung von Schuberts Satz, dass keiner den Schmerz und die Freude des andern verstehe: „Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur nebeneinander.“ Es finden sich Texte in diesem Buch, die den existenzialistischen Kern dieses Gedankens so gna-denlos freilegen, dass einem fröstelt beim Lesen. Nicht der Tod selbst wird verhandelt, weiß Silvia Berger: „Es ist nicht der Tod, es ist viel schlimmer, es ist das Weiterlebenmüssen, in dieser Eiseskälte.“ Dieses Weiterlebenmüssen nimmt in diesem Band mannigfache Gestalt an, funkelnd bisweilen in sprachlicher Virtuosität, herb und spröde, von kühler Eleganz, trefflich schneidend. Bei Michael Wenzel heißt es Püppi und leidet Glasknochenkrankeit. Bei Anna-Kathrin Warner heißt es Lili, ist Rumänin und geht schwanger von einem deutschen Herren. Heinrich Beindorf nennt es Cora, segnet es mit Kindern und einem Typen, der wegen Hartz IV sein Lebtag nie wieder arbeiten will / kann / darf. Ulf Groß-manns Paar steht ständig den „Balanceakt““ des „Nebeneiander statt zusammen, aber wenigstens nicht allein.“ Den Sohn einer Verstorbenen lässt Großmanns Dennoch-Weiter-So aufschreien: „Mir fehlen die Worte, und ich sage genau dies in deine allmächtige Präsenz. Wir schweigen beide. Und immer noch so laut. Alles dröhnt in meinen Ohren.“ Die dem Siechtum des Vaters ausgelieferte Tochter hingegen, mit deren Lebensqual Helga Bürster uns konfrontiert, scheint so ermattet, so leer und stumpf und taub, dass sie nicht einmal das Dröhnen der Leere noch wahrnehmen kann.
Wäre die Aussage der ‚Winterreise’ also eine nihilistische? Das Werk, wie Dieter Richter erwägt, deshalb so beliebt, weil dieser (vermeintliche) Nihilismus zentrale Elemente unseres modernen Lebensgefühls zum Ausdruck bringe? Peter Schleuning schreibt von Trotz und Aufbegehr des Leiermanns, Thomas Ehlert vom Geborgensein in Gott. Dagmar Dusils Soldat prophezeit der Kranken eine lange Reise, und die Krankenschwester entgegnet: „Vielleicht (.) vielleicht auch nicht. (.) Der Frühling kann im Winter versteckt sein, dann schlagen die Bäume Hoffnungen aus. Sie ist stark, stärker als wir glauben.“
Im Herbst 1827 vollendete Schubert die ‚Winterreise’. Wie viele Schriften bis heute, 184 Jahre später, zu ihr entstanden sein mögen? Wie viele Regalmeter diese wohl füllen? Wie viele Gebäude? Das vorliegende Buch erweist der ‚Winterreise’ (und dem ‚Winter’, und dem ‚Reisen’) facettenreich Referenz, indem es oft genug neue Sichten eröffnet, ungewöhnliche Töne anschlägt, und so Seite für Seite von der Aktualität des Themas kündet. Es belegt und es birgt die Gedanken und die Sprache unserer Zeit. Die eine andere ist als die Schuberts, auch die Sprache hat sich verändert und das Denken. Aber die Frage nach dem In-die-Welt-Geworfen-Sein und nach dessen Sinn ist geblieben.
Dass dieses Buch die Rätsel der ‚Winterreise’ nicht würde lösen können, war von vornherein klar. Dieses nicht und gewiss auch keines der Bücher, die in den kommenden 184 Jahren womöglich noch geschrieben werden. Das Mysterium bleibt und die Größe der Fragen und die Intensität des Nachdenkens. Schubert sei Dank.
- Veröffentlicht am Mittwoch 12. Oktober 2011 von Geest-Verlag
- ISBN: 9783866853171
- 512 Seiten
- Genre: Anthologien, Belletristik