Wir schreiben das Jahr 1953. Der Pathologe August Brenner begegnet nach fünfzehn Jahren seinem emigrierten Schulfreund Heinrich wieder: Dessen Leichnam liegt vor ihm auf dem Sektionstisch.
Brenner sah zu den Reihen der Studenten hinauf. Noch immer bildeten die Gesichter, durch die steilen Stuhlreihen übereinander gestaffelt, ein schwer lesbares aber einheitliches Muster, gebannt vor der Endgültigkeit des Todes. – Es war so still, dass die Geräusche der Sektionswerkzeuge den Hörsaal beherrschten, das Klappen einer Schere, ein leises Klingen von Glas. – Die unbewegten Gesichter verschwammen vor Brenners Augen. Er wandte den Blick ab. – ‚Herr Professor.‘ Meßner hatte die Rippenschere in seiner einen Hand, die linke Hand des Toten in der anderen. ‚Schauen Sie mal.‘ – Er legte die Schere auf der Brust des Leichnams ab. – ‚Sonderbarer Vogel‘, kommentierte Meßner und hob den steifen Arm des Toten am Ringfinger in die Höhe, so gut es ging. – Brenner beugte sich vor. Auf dem Ringfinger war eine Tätowierung zu erkennen. Eine Schlange. In dunkelblauen Linien, amateurhaft gemacht, aber gut zu erkennen. Eine Schlange, die sich am Grundgelenk um den Finger wand, an der Stelle, an der man einen Ring zu tragen pflegt. – ‚Herr Professor?‘ Meßner hielt immer noch den Finger fest. – Brenner sah Meßner einen Augenblick lang an, als erkenne er ihn nicht …
Kurz danach wird Brenner vermißt. Er hat sich mit der Schallplatte von Schuberts ‚Winterreise‘, einer Schachtel Veronal und einem Pappkoffer mit Heinrichs letzten Utensilien auf den Weg gemacht. Brenner kann keine Leichname mehr sezieren, er sucht die Spuren seines eigenen Lebens, vielleicht aber auch den Tod. – Auf dieser Reise durch die Trümmerlandschaft Nachkriegsdeutschlands begegnet er abgebrühten Kriegsteilnehmern, einer verrückten Artistin, Erfindern und einer charmanten Diebin, einem zwanghaften Schrottsammler und der ehemaligen Geliebten, die ihn nicht erkennt. So alt wie das Jahrhundert ist Brenner – und ist Zeuge der Utopien seiner Generation und ihrer Wirkungen.
In diesen Jahren nach der Zerstörung und vor dem neuen Aufschwung scheint das Land selbst, durch
das er reist, ein sezierter Leib, sein aufgeschnittenes Gewebe tritt zutage. Am Ende der Reise scheint sein Verschwinden erklärbar und Brenner mag wieder zu Hause sein – zurückgekehrt aber ist er nicht.//In seinem Debüt-Roman ‚Eine Winterreise‘ rollt Meinrad Braun ein Road-Movie vor uns Lesern aus, das unter anderem von den vielen eingebetteten Episoden lebt. Traumhaft, wie die gesamte Reise verläuft, stolpert der Protagonist Brenner in die Welt eines nächtens kampierenden Zirkusses und begegnet einer ebenso verstörten wie betörenden Artistin: ‚Sie war ihm so nahe, dass er, wäre die Scheibe nicht gewesen, ihren Mund hätte küssen können. Gleichzeitig konnte er sich der Tatsache nicht verschließen, dass ihn das Mädchen gar nicht sah.
Er fasste mit der Fingerkuppe leicht an das Glas. Da schloss sie
die Augen, als habe sie die Berührung gespürt und Brenner sah
staunend, dass ihre geschlossenen Lider von einem zarten bläu-
lichen Geäder überzogen waren, das ihm wie von fremder Hand
aufgemalt erschien.‘ – Den ganzen Roman entlang staunt Brenner
mit seinem Autor Braun zusammen über die feinziselierten Eigen-
heiten der ihm begegnenden Menschen, ist davon so verblüfft wie
über die Grobklotzigkeiten, die sie immer wieder an den Tag legen.
- Veröffentlicht am Freitag 31. März 2006 von Dielmann, Axel
- ISBN: 9783933974594
- 212 Seiten
- Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur (ab 1945)