Exposé zum Roman „Wir Suchenden“ – Untertitel „In Isenstedt und Anderswo“ – Gerhard Pollheide
Der Autor verlebt die Kindheit in seinem beschaulichen Dorf Isenstedt. Er war schon damals ein begnadeter Maler und Geschichtenerzähler. Frei und ohne aufgezeigte Grenzen erzogen, erzählt er anrührend von der ersten Liebe, den ersten erotischen Erfahrungen zu siebt in einer abgedunkelten Kutsche, von seiner „Lehrmeisterin“, die ihm das Küssen beibrachte aber auch über die Kriegserfahrungen seines Vaters, über seinen Hauptlehrer, der sich aus seiner Nazi-Vergangenheit nicht lösen konnte und weitere erlebte Isenstedter Geschichten. Sie reichen bis in die 60er Jahre, sind tiefsinnig, durchaus gesellschaftskritisch aber auch zum Schmunzeln und erinnern damit ein wenig an die masurischen Geschichten von Lenz.
Er will Künstler und Schriftsteller werden, was ihm sein Vater in Aussicht stellt, wenn er zunächst einen „vernünftigen“ Beruf erlerne. Also wird er Banker. Und da war „Zoff“ vorprogrammiert. Er konnte aufgrund seiner absolut antiautoritären Erziehung keine Vorgesetzten akzeptieren. Da der Autor zwischenzeitlich seine Bundeswehrzeit von achtzehn Monaten abdienen musste, kam es auch dort zu erheblichen Zerwürfnissen, weil für ihn Befehl und Gehorsam völlig unakzeptabel waren. Er löst diese Dinge spöttisch und witzig auf seine Weise, so dass er als Soldat sein Auskommen hatte.
Danach studierte er in der bankeigenen Akademie, flog raus aus dieser, da er auch die dortigen Professoren nicht akzeptieren konnte, wohnte in einer Kneipe in Gimbte, durfte jedoch an den Prüfungen teilnehmen, legte als Bester mit Prädikatsexamen die Prüfungen ab und wurde danach der Vorgesetzte seiner ehemaligen Vorgesetzten. Er war nun Top-Banker in herausgehobener Position. Aber er vernachlässigte seine Kunst und seine Schreiberei. Also wurde er krank und ging für drei Monate in eine psychosomatische Klinik, um wieder fit zu werden für seinen Beruf. Dieser Aufenthalt prägte ihn nachhaltig, lernte er doch dort viele wunderbare Menschen kennen, wie einen Oberst, der sich selbst eingewiesen hatte, weil er nicht mehr befehlen konnte und wollte, einen Versicherungsvertreter, der losfuhr und unsinnige Versicherungen seiner Kunden auflöste; worauf hin er als krank dargestellt und eingewiesen wurde. Diese Menschen mit ihren Geschichten und ihrer Herzlichkeit gaben ihm das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
Als geheilt entlassen arbeitete er wieder als Banker. Die Banken gierten nach Geld. Da war ihnen jedes Mittel recht, ganz gleich, ob Familien dabei zu Grunde gingen oder sich Schuldner erhängten. Er konnte die von ihm als Banker verlangten schier unglaublichen Handlungen nicht mehr vor seinem Gewissen verantworten. Er schmiss den Bankerberuf hin. Sein Bankerleben war zu Ende. Nun wurde er selbstständiger Unternehmensberater für Sanierungen. Er verdiente unglaublich viel Geld, kamen doch die honorargarantierten Aufträge von seinen ehemaligen Banken. Jetzt konnte er selbst entscheiden, was er machen wollte und was nicht.
Und er wurde Kommunalpolitiker aufgrund einer auf einem Bierdeckel von ihm unterzeichneten Parteieintrittserklärung, die ihn zum Parteimitglied der CDU machte und bei der nächsten Wahl zum Stadtrat beförderte. Nach einem halben Jahr trat er aus dieser Partei wegen unüberbrückbarer Gegensätze wieder aus und gründete eine eigene Partei. Die zog bei der nächsten Wahl als drittstärkste Kraft ins Stadtparlament ein. Elf Jahre war er der Fraktionsvorsitzende, wurde aufgrund seiner kritischen Haltung mit Haus- und Redeverbot sowie mit Geldstrafen belegt und war aufgrund der entsprechenden Presseberichte bekannter als der Bürgermeister. Nachdem von den regierenden Volksparteien den Sozialhilfeempfängern das Weihnachtsgeld gestrichen und den Asylanten jedwede Würde abgesprochen wurde, legte er nach elf Jahren sein Amt mit den Worten nieder: „Ich gehe, damit der Pöbel unter sich bleibt!“ Sein Politikerleben war zu Ende
Zu dieser Zeit merkte er aber auch, dass etwas in ihm eine starke Unruhe auslöste. Er war ständig auf der Flucht und suchte etwas, was er nicht fand. Seine Frau war ihm fremd geworden. Sie hatte einen Banker geheiratet – aber er war ja keiner; hatte einen Politiker geheiratet – aber er war ja keiner. Er war Künstler und widmete sich dieser Aufgabe mehr und mehr. Und er war auf der Suche nach seiner Frau fürs Leben, die er trotz unzähliger Beziehungen und Affären nicht fand. Nun ergründete er seine Unruhe und nahm an Familienaufstellungen nach Hellinger teil. Und hier erkannte er, dass er sein Leben lang über seine Herkunft belogen wurde. Er konnte über seinen Großvater keine Auskünfte geben. Ihm hatte man erzählt, sein Großvater sei ein französischer Kriegsgefangener gewesen, der auf dem Hof seiner Großmutter Zwangsarbeiter war, diese dann kennen und lieben gelernt hatte. Sein Vater sollte der Abkömmling dieser Beziehung sein. Also recherchierte er in Kirchenbüchern, fragte bei den zuständigen Institutionen wie dem Roten Kreuz und den noch lebenden Nachbarn nach diesem Mann, um zumindest seinen Namen zu erfahren, hierdurch gegebenenfalls seine Nachkommen kennen zu lernen. Nichts! Er bekam viele Informationen und konnte sie nicht zusammenbringen. Sie ergaben keinen Sinn.
Der Autor studierte nun das Bewusstsein, die germanische und die indianische Mythologie, um hierdurch etwas mehr über sich zu erfahren. Bei seinen Erzählungen von seinen Aufenthalten im Jagdschloss Göhrde staunt man, welche Dinge er allein mit dem Willen und der konzentrierten Kraft seiner Gedanken bewegen konnte. Doch ein Problem blieb: Er kannte sich überhaupt nicht mehr und brach immer wieder aus seinem Leben aus, um an allen möglichen Orten über die Kunst und das Schreiben zu sich zu finden, um zu ergründen, wer er ist, woher er kommt und warum er so ist, wie er ist. Und er traf immer wieder Frauen. Eine erotische Episode erlebte er beispielsweise mit Marlene im Hotel Bad Minden und beschreibt sie mit einem wunderschönen Text. Aber er dachte auch an Selbstmord, weil er todunglücklich war, er sich nicht kannte. Sein hochgradiger Gerechtigkeitssinn machte ihm zusätzlich das Leben schwer, da dieser für seine Arbeit als Unternehmensberater nicht unbedingt zuträglich war.
Bei einer seiner Auszeiten in Wiesmoor erinnerte er sich an einen Hinweis der Natur, den er in der Göhrde erlebte. Er meinte, diesen jetzt deuten zu können und beschloss, seine Unternehmensberatung zu verkaufen, tat dieses spontan und mit gutem Erfolg. Jetzt hatte er Zeit zum Nachdenken. Er beschloss, zu erfahren, wer er sei und erinnerte sich an seinen Jugendtraum, nach dem er sich den Film „Easy Rider“ angesehen hatte. Damals träumte er, da ihm die Route 66 in den USA zu bereisen wohl nicht gelingen würde, einmal in seinem Leben auf einer Reise mit der Harley Davidson, allein und mit Igluzelt, den südlichsten und nördlichsten Punkt Europas zu erreichen, mit einem Abstecher über Afrika. Der Autor beschloss, dieses jetzt zu tun, machte den notwendigen Führerschein, kaufte sich am Nachmittag der bestandenen Prüfung in Bielefeld eine Harley Davidson Softail, 1.600 ccm, 8 Zentner schwer, plante seine Reise, kaufte alle notwendigen Piselotten dazu ein und fuhr am 01.03.2001 los.
Auf dieser Reise über 57 Tage, allein im Igluzelt und einer Gesamtstrecke von circa 15.000 km, lehrte ihn der Fahrtwind und die Einsamkeit das Nachdenken und Puzzles seines Lebens so zusammenzusetzen, dass Sie einen logischen Sinn ergaben. Und er hoffte mal wieder, auf dieser Reise möglicherweise auch die Frau fürs Leben zu finden, von der er immer noch träumte. Er vermied die Urlaubsregionen und lernte dadurch Menschen kennen, die ihm ihre Geschichten erzählten, die er aufschrieb. Da ist die Geschichte von Michael, dem die Bank zu guten Zeiten eine Wassermühle als Wohnhaus finanzierte – und der nun, nach vielen geplatzten Träumen, als freischaffender Ingenieur den Bau von Kraftwerken in aller Welt beaufsichtigte und in seinem Caravan lebte. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Einladung durch arme andalusische Bauern ein. Sie, die kaum etwas haben, bewirten den Autor in einer rührenden Art und Weise, wie sie wohl nur in Andalusien vorkommt.
Er beschreibt auf seiner Reise wunderbare Landschaften und Städte und zuweilen auch deren Geschichte oder Geschichten. Er erzählt, wie er in Portugal fast im Regen umgekommen wäre, welche nächtlichen Verdauungsfolgen der „Genuss“ eines verdorbenen Kaninchens hatte, wie ihn in Tarifa (Südspanien) ein Bus streift und so seine Reise fast ein vorzeitiges Ende nahm. In Saint Jaén de Luz bedrohten ihn Le-Pen-Anhänger und ließen ihn flüchten; er baut sich eine Schneehütte am Polarkreis, um nicht zu erfrieren, da Glatteis ihn in einer Senke einschloss. Und natürlich erzählt er von seinen Begegnungen mit dem Berliner Mädchen am Strand von Tarifa und über seine berauschende Nacht mit Inga auf dem Postschiff MS Vesterålen in Norwegen. Nach weiteren atemberaubenden Abenteuern erreicht er nach dem südlichsten Punkt nun auch das Ziel seiner Reise, den nördlichen Punkt Europas, das Nordkap. Aber nicht einfach so. Man wird verzaubert von der Geschichte der Eroberung des Kaps über völlig verschneite und gesperrte Wege. Hierbei hilft ihm eine Gruppe von acht Freunden aus sieben verschiedenen Ländern, die er in seiner nördlichsten Pension der Welt kennenlernt.
Auf diesen Fahrten gingen ihm aber auch Rückerinnerungen durch den Kopf, die seines Gleichen suchten. Er fand immer ein weiteres kleines Stück seines verschütteten Ichs. Am Ende der Reise war er ein Anderer. Er
passte nicht mehr in seine alte Welt. Er trennte sich von seiner Frau, war einige Zeit obdachlos, suchte weiter die Liebe seines Lebens und ordnete seine Lebenspuzzles. Er malte und schrieb, versetzte sich in Trance, um sein Bewusstsein zu ergründen und erkannte nun die ihm aufgetischte Lüge über seine Herkunft. Aber er war noch zu feige, darüber zu reden. Das zwängte ihn weiter ein. Doch er wurde auch wieder politisch aktiv und wandte sich mit Kunstausstellungen gegen die Kriege und die Intoleranz und er versandte politische Streitschriften, nahm kritisch Stellung zum 11. September und zu den folgenden Kriegseinsätzen mit deutscher Beteiligung.
Der Autor lernte nun zwei Frauen kennen, die ihm gefielen; von denen er sich vorstellen konnte, dass eine von diesen seine Frau fürs Leben sei. Aber welche? Eine kannte er übers Internet. Eine Mailaffäre ohne Gleichen mit Liebesschwüren, ohne sich jemals persönlich gesprochen oder gesehen zu haben. Und die Andere, die ihn liebte, die ihm am nächsten war, verkannte er. Das änderte sich bei seinem Besuch, wo sich diese Internetfreundschaft als das Allerletzte herausstellte. Er bekam die andere; sie hatte gewartet. Sie war der Glücksfall in seinem Leben – sie war die Frau, die er immer gesucht hatte. Allein diese Erzählung wäre einen Roman wert gewesen.
Doch sein Fernweh, seine Unruhe waren nicht weg. Er wollte seine neue Frau nicht verlieren – darum erzählte er von sich alles, nur nichts über seine Herkunft. Er hatte Angst, sie hierdurch zu verlieren. Beide planten ihr gemeinsames Leben. Es sollte etwas völlig anderes werden; etwas, das mit Kunst, Literatur und dem Kochen zu tun hätte, da er ein auch begnadeter Koch war und seit seinem zwölften Lebensjahr kochen konnte. Er erzählte von der auf seiner Reise erlebten Gastfreundschaft in Andalusien. Also wurde alles verkauft und ein andalusischer Traum gesponnen.
Ein Grundstück in Andalusien war gekauft und ein Caravan. Sie wähnten sich in einem Rechtsstaat Europas und versuchten, vom Campingplatz aus, auf dem beide zweieinhalb Jahre lebten, den Traum in die Tat umzusetzen. Während dieser Zeit brach der Autor sein Schweigen über seine Herkunft. Er belegte haarklein, dass sein Vater ein Inzuchtkind war. Seine neue Frau fand nichts dabei. Sie meinte, diese Inzucht sei ein Glücksfall für sie beide, da er ja ohne diese Inzucht überhaupt nicht auf der Welt wäre, was sie für schade empfunden hätte. Was er für hochkompliziert hielt, erwies sich als ganz einfach. Dieses gab ihm den Mut, das alles auch seinen Geschwistern und anderen mitzuteilen. Erst hierdurch verloren sich seine Ängste und sein Suchen war beendet. Er war frei.
Allerdings hatte weder der Autor noch seine Frau mit der staatstragenden Korruption in Andalusien gerechnet. Sie war existenzbedrohend und kostete beide fast ihr ganzes Vermögen. Urteile wurden vom Gegner gekauft, Pläne gefälscht, sie wurden erpresst und von korrupten Gerichten abgeurteilt. Doch sie haben sich gewehrt. Allein! Sie machten einen Antikorruptionsmarsch von Sayalonga, über Torrox, Málaga, Sevilla, Cordoba, Toledo bis zum spanischen Königshaus in Madrid. So wurden sie auch Teil der spanischen Protestbewegung „Empört Euch!“ Niemals würden sie sich der Korruption beugen; schlechtesten Falls mit fliegenden Fahnen untergehen, schworen sie sich. Doch sie besiegten mit ihrem Durchhaltewillen und mit ihrer Gradlinigkeit nach fast zehn Jahren die Korruption, schlafen zwar immer noch in ihrem Caravan mit angebauter Blechhütte und angebautem Blechbad, aber ihr Künstlerdorf mit Restaurant, mit der kleinsten Schaubühne der Welt, mit Kunstgalerie und mit zwei Ferienappartements und Pool sind Wirklichkeit geworden.
Heute, am 05.01.2015, sagte der Autor, sei ein herrlicher Sonnentag in seinen andalusischen Bergen. Hier lebe er glücklich mit der Liebe seines Lebens. Des Morgens schaue er beim Frühstück aufs Meer. Dann rauche er Tabak aus seiner alten, zerbissenen Pfeife. Des Abends esse er Brot und trinke Wein. Die Sonne wärme seine Knochen. Seine liebende Frau neben ihm lächle ihn an und diese Welt schulde ihm nichts.
Fazit: Dieser 560 Seiten starke Roman ist ein Stück Zeitgeschichte, eine Liebesgeschichte, ein Reisebericht, in Phasen ein politisches Buch und zeigt auch auf, wo unsere Gesellschaft stand und steht. Der Roman ist unglaublich facettenreich und so wunderbar geschrieben, dass man ihn am Liebsten nicht mehr aus der Hand legen will.
Anders Rose, Komödiant, über den Roman „Wir Suchenden“ von Gerhard Pollheide
- Veröffentlicht am Sonntag 24. November 2024 von Brandheiß Verlag
- ISBN: 9783981727715
- 564 Seiten
- Genre: Belletristik, Romanhafte Biografien