Ich habe wie ein Konfuzianer ein gesundes Vertrauen. Ich vertraue, dass sich alle Dinge, wie sie sich ereignen, vernünftig ereignen. Natürlich spielt hier auch meine christliche Auffassung von der Vorsehung mit hinein. Alles Seiende ist vernünftig: Ich bin nicht nur mit der Bibel, Sokrates oder Hegel groß geworden, sondern auch mit Meng Zi und Lao Zi (Laotse).
So meinte ich immer unbewußt, meine Zeit wird noch kommen. Welche Zeit? In jungen Jahren hörte ich von der Mär, man solle sein Geschriebenes zwanzig Jahre ruhen lassen, ehe man es der Öffentlichkeit anvertraue. In meinem Falle wurden daraus bald fünfzig Jahre. Und es wären vielleicht fünfzig weitere Jahre geworden, wenn nicht der chinesische Dichter Yang Lian, einst Peking, heute Berlin, und mein österreichischer Verleger Walter Fehlinger mich gemahnt hätten, aus der Schublade zu holen, was der Schublade über die Jahrzehnte ein stilles, aber anscheinend ein dankbares Gedächtnis war.
Hat sich die Aufarbeitung meiner Vergangenheit in vier Bänden meines frühen Werkes gelohnt? War ich nicht im Emsland „Der Mann im Zimmer“, nährte ich nicht in der Kulturrevolution eine „Abgründige Erleuchtung“, litt ich nicht in den Berliner Jahren an dem „Gleichgewicht der Unruhe“, hing ich nicht wie alle Idealisten einer „Konstruktion des Affen“ nach? Und nun sollen dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahre Schreiben auf einmal in die deutsche und in die chinesische Gegenwart treten?
Für Yang Lian und Walter Fehlinger kein Problem. Wir haben uns zur Vergangenheit zu bekennen. So die beiden unisono. Diese war mir ein stetes Bemühen zwischen Qu Yuan und Li Bai, zwischen Hölderlin und Georg Trakl. Ich bin nur deren Schatten. Aus deren Schatten trete ich nun heraus als mein eigener Sänger. So hoffe ich zumindest. Dank an China, Dank an die deutschen Lande, aber auch Dank an die romanische Moderne, denn ohne Frankreich, Italien und Spanien bin ich nicht denkbar: Ohne Eluard, Ungaretti, Alberti gäbe es mich genau so wenig wie ohne Su Dongpo oder Gottfried Benn.
Ich bin also eine Geschichte, eine Geschichte aus anderen Geschichten. Ja, wer wäre das nicht, wer sollte das nicht sein? Und nur wenn wir Vergangenheit haben, nur wenn wir uns auf andere gründen, haben wir eine Gegenwart, eine hoffentlich reiche Gegenwart. Die Leserschaft möge da denken helfen.
Wolfgang Kubin in Peking, 1. März 2016