11. Februar 1997
Hier ist nun das Bataillon von Ciyaye Sipi (eine Region in Kurdistan; Anm. d. Ü.) und hier nun die Fraueneinheit… Nach einem 26-stündigen Marsch in Schnee, Kälte und Wind haben wir unseren Platz erreicht. Ich bin nun seit mehr als vier Jahren in der Partei und annähernd eineinhalb Jahren bei der Guerilla. Aber es ist offensichtlich, dass ich bisher nicht wirklich gelebt habe. Ich sehe, dass ich erst jetzt einen Schritt zur Guerilla mache und dass ich erst jetzt ihre Schönheiten, die eng mit Schwierigkeiten gekoppelt sind, verstehe. Die Luxus-Guerillatätigkeit ist zu Ende. Es ist wertvoll, das wahre Guerillaleben zu leben.
Gestern auf dem Weg hierher sind wir in Dörfer gegangen. Wir haben Menschen mit freundlichen Gesichtern und ängstlichen Blicken gesehen, die offensichtlich arm waren und gekrümmte Rücken hatten. Sie waren ganz deutlich voller Angst. Sie fühlten sich gezwungen, uns zu loben und die KDP schlecht zu machen: das machten sie als Erstes, als sie uns sahen. So, als hätten sie es auswendig gelernt.
Die Realität unserer Menschen ist sehr seltsam. Wie viele Gründe finden wir, um nicht wir zu sein und wie sehr werden wir dazu gezwungen. Diese Menschen lieben uns und unter normalen Umständen wären wir auf ihren Wunsch ihre einzige Führungskraft. Aber auf Grund inneren und äußeren Drucks wurde alles an ihnen sehr künstlich. Wir haben Zweifel, ob wir ihre Liebe glauben sollen oder nicht.
Sie haben uns ein paar Datteln und ein Brot gegeben und wir haben es auf dem Weg gegessen. Das war einer der schönsten Momente bei der Guerilla. Einer der Momente, in denen ich verstehe, wofür, wo und wie ich lebe.
Wir sind ein Stück gelaufen. Vor uns lag ein Eichenwäldchen aus dicken Bäumen, aus dem wir lebhafte Lieder hörten. Ich habe zum ersten Mal in den Bergen solche Lieder gehört. Ich dachte, einen Ort von solcher Schönheit gäbe es nur auf Gemälden. Je näher wir kamen, desto lauter wurden die Stimmen. Ungefähr zwanzig Kinder, unterschiedlich alt, hielten sich an der Hand und tanzten Halay.
Es ist ja Feiertag. Als sie uns sahen, wurden sie noch lebhafter und alle gemeinsam sangen: “Le sivaro, hey lele, hey lolo”.
Danach haben sie uns herzlich begrüßt und uns zum Feiertag gratuliert. Eines von ihnen hat Zigaretten angeboten und ich wollte eigentlich annehmen. Das war ein Moment, in dem ich eine Zigarette sehr gern geraucht hätte, aber ich nahm sie nicht. Ein Kind zwischen vier und fünf Jahren mit riesengroßen Augen beobachtete mich sehr interessiert. Ich habe es nach seinem Namen gefragt, aber ein anderes mit aufgeweckten Augen sagte: “Er heißt Hejar”. Er hingegen hieße Serdar. Ich habe Hejar ein kleines Foto vom Vorsitzenden geschenkt. Er hat sich gefreut und war beschämt. Die Kinder hatten an einer der Eichen eine große Schaukel angebracht und luden mich ein zu schaukeln. Ich geriet in Zwiespalt zwischen dem Kind in mir und der Erwachsenen, die ich zu sein hatte. Nach ein paar Sekunden der Unentschlossenheit brachte ich das Kind in mir, das schaukeln wollte, zur Ruhe, gab dem Erwachsensein den Vorrang und verabschiedete mich von den Kindern. Noch eine Stunde lang konnte man ihr Schaukeln und ihren Gesang hören. Ich habe es tausendmal bereut, dass ich nicht geschaukelt habe…
Anschließend kamen wir zum Bataillon. Unser Leben, die Art, wie wir leben, die Gegend, in der wir leben, und einige Begebenheiten hier sind nicht sehr schön, Genossin, zumindest oft ist es so. Die Methoden in diesem Kampf, den wir Klassenkampf nennen, verändern das Leben so, dass man es nicht wiedererkennt. Doppelzüngigkeit, Tratsch und intrigante Persönlichkeiten bilden sich heraus und werden zur Methode, anstatt die Parteikultur zu pflegen, oder zumindest wird das versucht.
Schon am ersten Tag meiner Ankunft, sogar schon als ich geschickt wurde, beschäftigten mich einige Dinge; ich will Dir gegenüber offen sein. Als der Vorsitzende mich zur YAJK-Verantwortlichen dieser Region machte, sagte er, dass ich auch in den anderen Bereichen aktiv arbeiten und mich nicht einengen solle. Obwohl das bekannt war, wurde ich aus dem allgemeinen Vorstand ausgeschlossen und nur an die Spitze einer Gruppe in Ciyaye Sipi gestellt, die eigentlich eine Abteilung ist, aber wie eine Kompanie organisiert ist. Sie haben mich sogar mit vorgeschobenen Gründen nicht zu den Regionalversammlungen zugelassen. Die Frauenkompanie besteht eigentlich aus Frauen, die bisher nicht in Kriegseinheiten eingesetzt waren, insgesamt 30 Freundinnen. Das ist für mich kein Problem, es ist sogar eine noch bessere Ausgangslage. Aber ich glaube, dass ich meine dreijährige Ausbildung und die großen Parteiversammlungen, an denen ich teilgenommen habe, einem breiterem Kreis vermitteln kann, und dass dies auch die Erwartung der Partei und des Vorsitzenden ist.
Wie ich mir das erkläre? Wir müssen es politisch zu verstehen versuchen. So sieht der Klassenkampf aus. Es gibt Gründe, warum das so ist. Ich muss diesbezüglich noch mehr Klarheit gewinnen und schreibe Dir den Grund vielleicht später.
Zwei Tage nach meiner Ankunft hier fand ich es notwendig, in manchen Punkten des allgemeinen Leben einzuschreiten; das war nur eine Sache. Aber während meiner Abwesenheit hat das die Kommandantin, die für das Bataillon zuständig ist, sehr verärgert. Die Beschlüsse, denen sie während der Versammlung stillschweigend zugestimmt hatte, hat sie anschließend beim Übermitteln an die männlichen Freunde so dargestellt, als ob sie selbst dagegen gewesen sei und ich die Kommandantin eines Bataillon ins Leere laufen ließ. Ich war erstaunt, aber ich habe sie auch darauf angesprochen. Indirekt habe ich ihr gesagt, dass ihr Verhalten Doppelzüngigkeit ist; sie hat es verstanden. Am Morgen war ihr Verhalten verändert.
Wir haben einen interessanten Freund hier, er heißt Bedir: “Welche spezifischen Fragen sollten denn schon Frauen haben, die sie vor den Männern geheimhalten und unter sich zu klären versuchen?” Dieser neugierige Freund beobachtet mich ganz merkwürdig. Er will wahrscheinlich wissen, was aus mir wird. Er ist gegenüber der YAJK auch sehr vorsichtig und hat ernste Befürchtungen. Schon bevor ich die Arbeit begonnen habe, hat er mich eindringlich gewarnt, fast hat er mir gedroht mit einem: “Nimm dich in Acht”. Ich werde wahrscheinlich mit diesem Kommandantenfreund etwas Schwierigkeiten haben.
… Das ist ein schlechtes Gefühl, ich weiß, und ich weiß auch, dass es überwunden werden muss, ansonsten wird es schlimm enden. Aber ich fühle mich an diesem Ort fremd. Mein Herz möchte ein Vogel sein, um nach Zagros zu fliegen. Nach Xanxurke und manchmal über die mächtigsten Berge hinweg nach Dersim und Munzur. Mein Herz weint wie ein Waisenkind, meine Liebe.
Ein Gruß von dir
Kommen soll der Frühling in den Flügeln der Vögel
Am Gipfel des blutigen
Und des heldenhaften Kampfes
Soll das vergossene rote Blut
Keimen zu einer Rose
Die dann “Hoffnung” genannt wird
Unter der dunklen Nacht
sollte die Sonne zur Erde fliehen
von den Eutern die Hoffnung melken
um es der Wurzel zu geben
- Veröffentlicht am Dienstag 26. November 2024 von Mezopotamien Verlag
- ISBN: 9783931885021
- 150 Seiten
- Genre: Belletristik, Briefe, Tagebücher, Taschenbuch