Wenn ich in meinem Beruf den Kunden frage, ob ich das Buch als Geschenk verpacken darf, bekomme ich oft die Antwort: „Sehr gerne, aber bitte schlicht, es ist für einen Mann“. Sind die Männerherzen so schlicht? Dieser Frage geht Nickolas Butler in seinem neuen Roman nach. Wir leben immer noch in einer Welt, die sehr männlich geprägt ist. Die sozialkritischen Fragen werden anhand der Protagonisten lebendig dargestellt. Anhand einer langen Männerfreundschaft wird ein zeitlicher Bogen von 1962 bis 2019 gespannt. Eine Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Männer, die doch einiges verbindet. Die Handlung ist in vier Abschnitte geteilt und gradlinig, fast schon konservativ erzählt. Wodurch werden Jungs, die ihren Weg in der Jugend noch vor sich haben, zu Opfern oder zu Tätern? Es treffen gute, schlichte und schlechte Menschen aufeinander. Anfänglich ist es eine fast reine Männerwelt. Männer und Jungs, die im Pfadfinderlager gemeinsame Zeit verbringen. Die Männer, die als Betreuer ihre Söhne begleiten, nutzen die Zeit, um dem Alltag, meist sogar mit Alkohol, zu entkommen. Die Jungs, die ihren Weg noch zu finden haben, sammeln Baseballkarten, machen Geländespiele und lernen in der Natur zu überleben. Doch folgen sie ein Stück weit auch dem Ideal der Väter. Als am Ende des Romans eine starke, aber verletzte Frau, ihren Weg in diese patriarchische Welt findet, stellen sich ihr hohle, rechtspopulistische Machos in den Weg.
Es beginnt 1962. Nelson ist ein stiller, sensibler Junge, der dadurch für seinen Vater eine Enttäuschung ist. Sein Vater sieht in ihm ein Muttersöhnchen, das zu nah am Wasser gebaut ist. Beide sind im Pfadfinderlager, denn der Vater hat die Hoffnung, dass dort aus dem verunsicherten Kind ein Mann gemacht wird. Nelson hat kein Selbstbewusstsein, da er keine Freunde hat. Doch entsteht eine Kinderfreundschaft im Lager. Jonathan, den Nelson auf seinem Kindergeburtstag kennengelernt hat, hält immer mehr zu ihm. Damals an seinem Geburtstag, hatte er viele Kinder eingeladen und doch war nur Jonathan als Gast gekommen. Da dieser auch bei den Pfadfindern ist, werden er und der Lagerleiter die Bezugspersonen für Nelson während der Tage in der Natur und in seinem kommenden Leben. Nelson hat den Spitznamen „Trompeter“, da er von seinem Großvater eine Trompete hat, die er über alles schätzt und somit zum morgendlichen Weckruf abgestellt wurde. Das strukturierte Pfadfinderleben und die moralischen Werte geben Nelson einen Rahmen, dessen strenge Einhaltung ihn im Lager aber nicht sehr beliebt macht. Auch sein Vater geht beständig auf Abstand. Nach einer verlorenen Wette bei einem Mannschaftsspiel, muss er den verlorenen Wetteinsatz einlösen und wird dabei sehr erniedrigt. Jonathan erweist sich hierbei erneut als sein Retter. Doch ist er es wirklich? War er nicht auch im Wald dabei, als er gejagt und geärgert wurde? Ist Jonathan, der treue und ehrliche Freund, der immer zu Nelson steht? Sein Vater sondert sich immer mehr ab und verschwindet dann auch gänzlich aus Nelsons Leben. Da seine Mutter, die von den Plänen ihres Mannes bereits wusste, sich nun aber nach der abrupten Trennung, kurzfristig keinen Rat weiß, kontaktiert Nelson den alten Kriegsveteran, der das Pfadfinderlager leitet und beginnt so langsam in dessen Fußstapfen zu treten.
1996 reisen erneut ein Vater und sein Sohn in das selbige Pfadfinderlager. Es sind Jonathan und sein Sohn Trevor. Sie reisen rechtzeitig zuhause ab, um sich bereits vorher mit einer Freundin und mit Nelson, der jetzt das Lager leitet, zu treffen. Trevor freut sich auf Nelson, den er sehr mag und bewundert. Er hofft, endlich mehr über dessen Zeit in Vietnam zu erfahren. Trevor ist ganz anders als sein Vater. Er ist einfühlsam und glaubt an die große Liebe, die er auch in seiner Freundin Rachel gefunden hat. Jonathan möchte ihm die Augen für seine Sicht auf die Welt öffnen und drangsaliert seinen Sohn mit väterlichen Ratschlägen. Trevor, der belesen ist, u.a. die „Prophezeiungen von Celestine“ gelesen hat, lässt den Rat weitestgehend an sich abperlen. Doch als er mitbekommt, dass die Freundin, mit der sie sich zum Abendessen treffen, die neue Frau an der Seite seines Vaters ist, eskaliert der Abend.
Im letzten Abschnitt des Romans wird nun Rachel in den Vordergrund gestellt. Es ist das Jahr 2019 und sie reist als Frau mit ihrem Sohn in das Pfadfinderlager, das immer noch von Nelson geleitet wird. Warum reist sie als Frau in das Lager? Was ist mit ihrem Exmann Trevor geschehen? Was muss sie dort erleben? Was ist in ihrem Eheleben vorgefallen? Wie ist es bisher Nelson und Jonathan ergangen?
Ein Roman über die wahre Männlichkeit? Mitnichten. Dennoch ist sehr viel Testosteron im Spiel. Es geht um die Verletzlichkeit des männlichen Herzens. Ein Roman, der moralisches aufzeigt und mit vielen Bildern spielt. Auch die Pfadfinder dienen hier stets als Schaubild. Es ist ab und zu ein kleines zu viel und doch hat das Buch bis zum Ende seinen Reiz. Man verliert sich in dieser Männerwelt, die durch Spiel, Krieg, Liebe, Sex und beständige Ablenkung geprägt wird. Freundschaft, Loyalität und Wertevorstellungen gehen einher mit Gemeinheiten und Verletzungen, die man sich gegenseitig antut. Stärke wird oft mit Muskelkraft, Autorität und Macht verwechselt.
zuerst veröffentlicht im leseschatz
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