„Schiffsmeldungen“ von Annie Proulx zählt zu meinen liebsten Büchern, daher habe ich diesen Roman mit gemischten Gefühlen begonnen. Einerseits habe ich mich natürlich sehr auf die Lektüre gefreut, andererseits bin ich immer etwas ängstlich bei den Nachfolgern eines Lieblingsbuches. Wird es den hochgesteckten Erwartungen entsprechen? In diesem Falle kann ich das frohen Herzens bejahen. Ein paar Längen gibt es, aber die sind bei einer Zeitspanne von dreihundert Jahren und knapp 900 Seiten Buchumfang kaum zu vermeiden.
Worum geht es? Grob umrissen, geht es um den Werdegang zweier Familien und parallel dazu um die Entwicklung der Holzindustrie. René Sel und Charles Duquet kommen um 1693 nach Neufrankreich, das heutige Kanada. Sie verdingen sich als Holzfäller in den schier endlosen Wäldern dort. Während Sel sesshaft wird, eine Ureinwohnerin heiratet und eine Familie gründet, zieht es Duquet in die Welt hinaus, um Geld zu machen. Sels Nachkommen werden überwiegend Holzarbeiter. Sie ziehen von Lager zu Lager in einem lebensgefährlichen Beruf. Mit den Sels beschreibt Annie Proulx aber auch den Kampf der Ureinwohner um Land, Kultur und Selbstachtung.
Charles Duquet wird tatsächlich ein reicher Holzhändler, Begründer einer Dynastie, der Familie Duke. Auch sie ziehen quasi durch das Land, aber nur um Baum für Baum zu fällen, ohne Rücksicht auf Boden und Natur, ausschließlich auf Profit ausgerichtet. Der Gedanke der Wiederaufforstung entsteht in Amerika erst sehr spät, zu spät, und wird auch lange Zeit belächelt als verträumte Spinnerei.
Während der Lektüre beginnt man die Denkweise eines Donald Trump zu verstehen. Der Gedanke, Natur im „Rohzustand“ wäre unnütz und nicht gottesgefällig, scheint sich über Generationen und Jahrhunderte in vielen amerikanischen Köpfen fest verankert zu haben. Trump ist ein Duke in Reinform.
Und genau das macht diesen Roman so packend. Man liest vom Verschwinden der großen Wälder, von Profitgier und Raubbau und stellt fest, dass zwar mit der Zeit die Methoden moderner geworden, die Argumente dafür aber immer noch dieselben sind.
Die Ureinwohner z.B. galten u.a. deshalb Wilde, weil sie das Land auf dem sie gelebt haben, nicht genutzt haben, sich nicht untertan gemacht haben durch Ackerbau und Viehzucht. Sie haben dort „nur“ gelebt, für damaliges Denken eine geradezu unfassbare Geisteshaltung. Auch heute wäre es für viele Mebschen undenkbar, eine Ölquelle nur deshalb nicht anzuzapfen, weil das Land darüber erhaltenswert ist.
Es ist die Kunst Annie Proulxs alle diese Mißstände quasi nebenbei anzuprangern, sie in den Text einzuflechten. Sie erzählt die Geschichte zweier Familien über Generationen, mit den Problemen, denen jede Generation gegenüber steht, gibt Einblick in typische Denkweisen der jeweiligen Zeit und behält trotz aller Blicke nach rechts und links den roten Faden fest im Auge. Man kann den Roman also auch nur als spannende Familienchronik lesen. Aber wenn man das Gelesene auf sich wirken lässt, sich der Tragweite des Raubbaus an der Natur bewußt wird, dann bekommt man das irre Bedürfnis, Bäume zu pflanzen, so viele wie nur eben möglich, um sich gegen das Rad der Zeit zu stemmen und die Dukes dieser Welt zu stoppen.
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