Die Zwillinge Ali und Anton sind noch Kinder, als sie mit dem Vater zurück fahren, das erste Mal zurück nach Russland, von wo die Familie als jüdische „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland ausgewandert war, so lässt Sasha Marianna Salzmann ihren Roman mit einem kurzen Prolog beginnen. In den folgenden Kapiteln ist es die Perspektive von Ali, eigentlich Alissa, zuerst im „Heute“ in Istanbul, auf der Suche nach Zwilling Anton, dazwischen eingeblendet der Rückblick auf das Leben der Familie in Russland, das Leben der Eltern Valja und Kostja, der Großeltern, der Urgroßeltern. Zwischendurch wechselt die Perspektive vom auktorialen Erzähler zum Ich-Erzähler aus der Sicht Alis – doch die Autorin weiß noch mit einem weiteren Perspektivwechsel zu überraschen.
Das Buch ist anspruchsvoll, will man als Leser nicht die Spur verlieren zwischen den verschiedenen Handlungszeiten, Personen und Orten, dazu ist der Stil sehr bildhaft, teils wie in Traumsequenzen nebulös, assoziativ. Zum einen gibt es da den Handlungszweig der Familiengeschichte, immer mit der Komponente, was es in der jeweiligen Zeit bedeutete, Jude zu sein, was Bindungen bedeuteten, die Geschlechterrollen, Macht und Gewalt, Emigration, Zugehörigkeit. Nach dem Umzug nach Deutschland spätestens nimmt das Gefühl der Auflösung zu, die Familie gehört nirgends mehr richtig hin. Das setzt sich fort in den Identitäten der Zwillinge, wer ist wer, welche sexuelle Ausrichtung, welche Geschlechterzuordnung gilt.
Die Sprache – nun, da gibt es Bilder, die ich mag, wie über die älteren Männer in der Türkei „…dachte sie daran, dass alle Männer …diese Anzüge trugen, die aussahen, als wären sie in ihnen auf die Welt gekommen, als hätten sie in ihnen geschlafen und getrunken, gevögelt und sich geprügelt, wären damit in die Berge gegangen, um dort zu den Waffen zu greifen.“ S. 29 Das sind Bilder, die ich umsetzen kann. Dazu kommt noch eine teils verschlungen-verschachtelte Sprache, aber dann auch Sätze, Bilder, die für mich eher in den Nebel führen wie die (alb)traumhaften Sequenzen mit den fingergroßen Katzen.
Das Buch lässt mich ähnlich zerrissen zurück wie Ali, einerseits fällt mir immer mehr über das Buch ein, je länger ich darüber nachdenke, ich gehe Schritte zurück, lese nach, vergleiche; mir fällt auf, dass die erste Szene im Buch zweimal erlebt wird. Andererseits sind es mir etwas zu viele Geschichten auf einmal, Familiengeschichte, Russland, Migration, Integration, Identität, Zugehörigkeit, Vorurteile, Türkei, Deutschland. Ideal auf jeden Fall, das Buch in einer Gruppe zu lesen – bei den vielen Fragen, gerade bezüglich Anton, stellte ich mir irgendwann die Frage, die für mich zur Kernfrage des Buches wurde: ist das überhaupt wichtig? Ist es wichtig, ob Ali ein Mann sein will, Frauen liebt, die Männer sein wollen oder wo sie lebt; macht DAS ihre Identität aus? Und wenn es das nicht ist, was dann, was macht unsere Identität aus?
Dankbar war ich für das erste Kapitel in Istanbul, hätte das Buch mit dem zweiten begonnen, in Russland, hätte ich wohl abgebrochen (nicht gleich erschrecken, der Abschnitt ist wirklich nur kurz). Frauen werden verprügelt und vergewaltigt (nein, man ist nicht dabei, es wird als „üblich“ erwähnt, auch einiges andere wird so abgehandelt), von Tierquälerei wird berichtet, Eltern saufen, dazu Judenhass, Abtreibungen als Familienplanung – ich konnte schon „Das kalte Licht der fernen Sterne“ deshalb nicht leiden. Ernsthaft? Bei dem „kalten Licht“ wurde ich damals von anderen als zu verzärtelt oder unwissend tituliert; würde man jedoch über irgendein anderes Land oder eine andere Gruppe derart schreiben, bekäme man als Autor Rassismus, Chauvinismus oder ähnliches unterstellt, also was ist es nun?! Bücher zur Thematik Flüchtlinge sind mir zur Zeit meist zu naiv-optimistisch (mit Ausnahme von „Exit West“), geht es jedoch um Russland, empfinde ich sie geradewegs als das Gegenteil, selbst wenn es auch dort wie hier um Zuwanderung geht (nur zur Klarstellung; es geht nicht um persönliche Betroffenheit).
Das mag jetzt wenig politisch-korrekt sein, aber ich habe so eine Aversion gegen gehypte Themen, hier nervt mich diese Gender-Fixiertheit. Das Thema begann mal als erweiterte Feminismus-Debatte, dann ging es um den Kampf gegen Homophobie, alles noch Themen, die ich wichtig fand und denen ich folgen konnte, doch dann folgte eine immer neue Begrifflichkeit, eine immer stärkere Ausweitung von Begrifflichkeiten, transgender, genderfluid…. Bei mir stellen sich da Igel-Stacheln auf, ähnlich wie bei „Flexitarier“, Begriffe, die unbedingt irgend ein Fluidum greifen wollen, unbedingt nicht verletzen wollen, aber mir zu inhaltsbefreit sind im Versuch, jeglichen Inhalt zu begreifen. Lasst die Leute doch einfach leben. Ja, ich weiß, DAS genau ist das Problem, aber mit überfrachteten Anglizismen wird das kaum besser. Oder kann sich jemand einen, konkret, Schwulenhasser vorstellen, der dieses Buch zuende bringt?
Im Fazit komme ich am besten mit dem Buch klar, wenn ich es aus dem Blickwinkel sehe, dass es zwar Salzmanns Romandebüt ist, sie jedoch eine renommierte Bühnenautorin ist: ich nehme es am „griffigsten“ wahr in seinen Szenen und Bildern, die mir präsentiert werden, sehr „modernes Theater“, nicht auf „Gefälligkeit“ gepolt. Das hat für mich 5-Sterne-Anteile hinsichtlich toller Sprachbilder, eines noch nicht so abgearbeiteten Sujets wie dem, Identitätssuche über verschiedene Ebenen durchzuziehen, aber auch 2 bis 3-Sterne-Anteile, wie der Verzettelung über mir zu viele Themen (statt weniger starker), der nach meiner Meinung teils unbedingt provozieren-wollenden sprachlichen Obszönitäten (ist der Leser cool genug??) und des mir teils zu gewollten Melodramas, nicht nur Frau auf der Suche nach ihrem anderen Ich, nein, sie liebt eine Frau, nein, die möchte lieber ein Mann sein, nein, sie auch.
Ich gebe sehr wohlwollende 4 Sterne, fragt‘ mich vor 5 Stunden oder in 5 Tagen, es wird jede Wertung zwischen 2 und 5 Sternen möglich sein. Bemerkenswert. Beim Folge-Buch hätte ich’s gern weniger um sich selbst kreisend, weniger dem Hype huldigend. Das ist ein Buch, das man sehr intensiv lesen kann, in der Zeit auch mehrfach – aber weniger eines, das ich in einem Jahr wieder lesen würde.
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