„Gott, hilf dem Kind“ ist ein weiterer Roman der Nobelpreisträgerin Toni Morrison, in dem es auch um Rassenfragen geht. Lula Ann, Tochter zweier Farbiger mit hellem Hautton, kommt als tiefschwarzes Baby zur Welt. Daraufhin verlässt der Vater die Familie, und die Mutter zieht ihre Tochter nur mit Widerwillen groß. Später macht Lula Ann unter dem Namen Bride Karriere in der Kosmetikindustrie, findet und verliert ihre große Liebe. Auf der Suche nach Booker, der sie plötzlich und ohne Vorwarnung verlassen hat, erfährt sie viel über sich und die Welt, in der sie lebt.
Erzählt wird Brides Geschichte im Wechsel von ihr selbst, ihrer Mutter, einer Freundin und einigen anderen Personen, die jeweils ein weiteres Puzzleteil zum Geschehen hinzufügen.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Kindesmißbrauch durch den Roman und das Schweigen, das zu diesem Thema allerorten gemeinhin herrscht. Toni Morrison erzählt davon, was dieses Schweigen macht mit denen, die nicht reden dürfen, können oder wollen, mit denen, deren Trauer öffentlich unerwünscht ist, weil das Leben ja weiter geht, mit denen, die die Schuld spüren, die in diesem Schweigen liegt.
Große Themen, großartige Sprache und trotzdem ist dieser Roman im Vergleich zu früheren Werken der Autorin eher blass. Zu viel wird nur angerissen, zu viele Erzählstränge werden nicht weitergeführt, zu viel, das passiert in der Kürze des Buches. Ich hätte mir einen breiter angelegten Roman gewünscht, den Dingen mehr Zeit sich zu entwickeln, den Charakteren mehr Tiefe. Vor allem Brides körperliche Veränderungen und ihre Ursache hätten in meinen Augen mehr Raum beanspruchen dürfen.
Das ist natürlich schon Jammern auf hohem Niveau, aber in diesem Roman steckt einfach so viel mehr, das zu erzählen wäre, blitzt soviel Fabulierlust und Formulierkunst auf, dass man am Ende das Buch zuklappt und denkt „Das war’s schon? Das kann nicht sein…“ Viele Fragen bleiben offen, viele Lebensläufe unerzählt und manche Charaktere wirken eher wie Mittel zum Zweck. Besonders auffällig ist das bei Sofia, die durch eine untilgbare Schuld mit Bride verbunden ist und trotzdem nur eine kleine Nebenrolle spielt, gerade so lange bis der Anfang gemacht ist und sie im Dunkel der nicht weiter Erwähnenswerten verschwindet.
Wer sich allerdings einen Einblick in das Werk Toni Morrisons verschaffen möchte, der findet hier ihre Hauptthemen auf dem Silbertablett: afroamerikanischer Überlebenswillen, Rassismus und starke Frauen, die ihren Weg suchen und finden, trotz oder weil die Umstände es eigentlich nicht zulassen. Der findet hier auch den Sprachreichtum und die überbordende Phantasie, die die Romane Morrisons auszeichnet und den Humor, der auch nach den düstersten Szenen Licht in das Geschehen bringt.
Ein Einstieg in das Werk Toni Morrisons, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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