Selten sieht man ein Buch, bei dem wirklich alles passt und ineinandergreift. Wo Inhalt und Aufmachung eine Einheit sind, offenbar überlegt aufeinander abgestimmt. „Wiesenstein“ ist so ein Buch.
Es beschreibt die letzten Lebenswochen Gerhard Hauptmanns, des großen Dichters und Literaturnobelpreisträgers von 1912 in Romanform. Romanform heißt in diesem Falle, dass neben dem großen Teil gut recherchierten Materials aus Tagebüchern, überlieferten Worten und Schriften, auch ein Teil erdacht ist, Dialoge beispielsweise, immer mit dem Hintergedanken „so könnte es gewesen sein“.
Nachdem ein Aufenthalt im zerbombten Dresden nicht mehr sinnvoll erscheint, wo der 83jährige Hauptmann und seine Frau Margarete in einem Sanatorium weilten, beschließen sie nach Hause zurückzukehren. Zuhause, das ist ihre Villa Wiesenstein in Schlesien. 1945 ein geradezu wahnwitziges Unternehmen. Aber dank der immensen Berühmtheit des Schriftstellers und der daraus sich ergebenden Privilegien gelingt das Unterfangen. In Wiesenstein nehmen die Hauptmanns ihr gewohntes Leben auf, samt Köchin, Gärtner, Hausdiener, Zofe, Sekretärin und Masseur. Und während um sie herum die Welt zerbricht, werden mehrgängige Menüs gereicht, fließt der Wein und es gibt sogar einen Filmabend für Freunde und Bedienstete.
Hans Pleschinski gelingt es mühelos, die verlorene Welt des Großbürgertums und der damaligen Künstlerkreise wieder aufleben zu lassen. Er beschreibt die Abläufe in der Villa sehr genau, von der Küche bis zum Salon. Erschütternd zu lesen, wie sehr die Menschen um Hauptmann herum, seien es Kollegen oder Angestellte auf seinen Schutz hoffen, darauf, dass sowohl Nazis als auch Russen ihn kennen und schätzen, und vor allem erschütternd, wie wenig das die Hauptmanns beschäftigt. Besonders Margarete Hauptmann muss eine sehr standesbewußte, kühle Frau gewesen sein, deren einzige Sonne ihr Mann und sein Ruhm waren und die das Wohlergehen anderer schlichtweg nicht interessierte.
Unfassbar die Geschehnisse in den Städten und Dörfern rundherum, während die Schlinge immer enger wird um die Villa. Verbrannte Häuser, vergewaltigte Frauen, Leichengestank, Plünderer, Hunger, Angst, Verzweiflung – in Wiesenstein werden Literaturabende veranstaltet mit Lesungen aus dem Werk Hauptmanns.
Und als es tatsächlich funktioniert, als sowohl Russen als auch Polen den Sonderstatus Hauptmanns aufrecht erhalten, wie wenig Dankbarkeit spürt man da, wie selbstverständlich wird das doch aufgenommen.
Und trotzdem – Hauptmann muss innerlich gespalten gewesen sein, denn im Gegensatz zu seiner Frau und trotz schwerer Erkrankung, scheint er mehr von dem Geschehen um sich herum wahrzunehmen, als er zeigen mag, macht er sich mehr Gedanken um die Richtigkeit seines Handelns, als man zunächst vermuten mag. Und er muss eine enorme Ausstrahlung besessen haben, denn er wird von allen verehrt, die mit ihm in Berührung kommen, auch von denen, die um seine Fehler wissen.
Hans Pleschinski hat mit „Wiesenstein“ eine berührende Annäherung an einen großen Dichter geschrieben und ein Stück Zeitgeschichte in all seiner Grausamkeit erhellt. Für mich ist dieser Roman eines der großartigsten Bücher, die ich bisher lesen durfte.
Der C.H. Beck Verlag hat diesem besonderen Roman einen passenden Rahmen gegeben: der Schutzumschlag zeigt einen Turm Wiesensteins, das Vorsatzpapier die Fresken in der Eingangshalle, Photos von den Hauptmanns und der gesamten Villa runden das Ganze ab. Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche, schon allein, um das inzwischen in Vergessenheit geratende Werk Gerhard Hauptmanns wieder in das Bewußtsein zu rufen.
Weitere Rezensionen lesen: Wiesenstein | Hans Pleschinski