Auf der Frankfurter Buchmesse 2017 wurde mir mit wortreichen Empfehlungen dieses Buch, Die Schlange von Essex, in die Hand gedrückt. Neuentdeckung, meisterhaftes Erstlingswerk, mehrfach ausgezeichnet — alles detailliert beschrieben im kurzen Klapptext über die Autorin. Alles kein entscheidendes Argument für mich, um ein Buch zu lesen. Genauso wenig hilfreich war das übliche Teasern auf der Rückseite des Buches: anmutig und intelligent erzählter Roman über die Liebe und ihre unzähligen Verkleidungen.
… aha …
Ich verkniff mir artig ein „Argl!“, nahm den Roman brav dankend entgegen und legte ihn daheim auf den Haufen ‚Ungelesenes — mal schauen, wann ich dazukomme‘.
Was führte dazu, dass ich dieses Werk erstaunlich bald zur Hand nahm? Um ehrlich zu sein, mein Pflichtbewusstsein war schuld. Ich hatte versprochen, den Roman zu lesen, um eine Rezension auf der neuen Webseite litnity.com zu schreiben. Als Leseratte widersteht man nur schwer der Versuchung, seinen eigenen Sermon über Bücher ablassen zu können. Also leste, äh … legte ich los, meine persönliche Leseregel in Erinnerung rufend: „Wenn du nach dem ersten Kapitel nicht drin bist, dann ist das Buch raus.“ Zu groß sind meine Haufen ,Ungelesens’ in verschiedenen Abstufungen, die da meiner dürftigen Lesezeit harren.
Was führte also dazu, dass ich diesen Roman nicht nur begonnen habe, sondern auch gern zu Ende las? Jap, ganz einfach: die gut geschriebene, gute Geschichte.
Kurz zu ihrem Inhalt: es geht um eine eigenwillige Protagonistin namens Cora Seaborne, die es nach dem Tod ihres garstigen Mannes ins ländliche Essex verschlägt. Wir bewegen uns zeitlich im Jahr 1893 und Cora zählt zu den schräg beäugten Frauen, die mit ihrem Hunger nach Wissen und Wissenschaft milde belächelt bis verachtet wurden. Die Gerüchte einer monströsen Schlange in Aldwinter lösen Coras Entdeckergeist aus. Samt Sohn und Haushälterin reist sie in diesen kleinen Ort am Meer, stiftet Unruhe und Verwirrung, sucht übereifrig aber planlos nach der Schlange und entdeckt dabei ihr Ich und die Liebe.
Klingt kitschig, ist es auch. Aber es ist wunderschön kitschig. Die Spielerei mit der biblischen Bedeutung der Schlange drängt sich zwar unelegant auf, doch dafür fesseln die Figuren um so mehr. Hat man die ersten paar, eher anstrengenden Sätze überwunden, fließt die Geschichte spannend dahin. Zu Beginn wird eine Art atmosphärische Wortsammlung zur Einführung in die Zeit und Örtlichkeit aufgelistet. Das muss man mögen. Ich tue es nicht. Doch irgendwann merkt geht das ganze in klare Formulierungen über und es kristallisieren sich die Personen heraus, deren Schicksal man folgen will. Urplötzlich ist man mittendrin in Coras neuem Witwenleben. Folgt ihr gespannt von Bekannschaft zu Freundschaft, nimmt Teil an den eigenwillligen Charakteren um sie herum und riecht das London sowie Essex um die Jahrhundertwende. Ganz unangestrengt bedient sich die Autorin dabei dem Kniff, mal in rein klassischer Erzählform zu schreiben, mal mittels persönlicher Briefe ihrer Figuren die Geschichte fortzuführen. Die Zeitsprünge sind manchmal etwas abrupt. Doch man verliert nie den roten Faden. Es gibt sogar immer wieder Sätze in dieser Geschichte, die man laut im stillen Kämmerlein lesen möchte, um sie noch besser zu schmecken: „War der Regen immer schon so sanft gewesen, als könnte man darin wohnen?“
Kurz und gut — sogar einen Liebesroman-Muffel wie mich, konnte diese Autorin fesseln.
Nur eines hat sie leider nicht geschafft. Der Geschichte ein Ende zu schenken, dass den Leser zufrieden hinterlässt. Ohne Spoiler lässt sich nicht detailliert erklären, warum das Ende schal wirkt. Aber so viel sei verraten: das Ende ist nervtötend offen. Bei der ganzen Üppigkeit an Bildmalerei durch Worte, hätte es meiner Meinung nach nicht weh getan, wenn die Protagonisten ein wenig mehr Happy End statt Realo End leben dürften. Gern hätte ich dieses Buch mit einem selig-kitschigen Seufzer geschlossen statt mit einem genervten Brummeln.
Doch dieser Wermutstropfen sollte nicht davon abhalten, die Lesennase in dieses Buch zu stecken. Wie gesagt, dieser Liebesroman bindet sogar Verweigerer dieses Genres an seine Seiten. Es gibt langweiligere Möglichkeiten um dunkle Winterabende oder lange Zugfahrten zu überstehen.
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