In Die Gewitterschwimmerin erzählt Franziska Hauser, Jahrgang 1975, die Geschichte ihrer eigenen Familie. Die Idee dazu sei aus der Frage entstanden, warum ihre Mutter so ein Biest geworden war, sagt die Autorin im Interview, und erst nach Fertigstellung des Romans sei ihr klar geworden, dass ihre Mutter auch die Hauptfigur ist. Als Titelheldin des Romans wird diese Mutter zur 1951 geborenen Tamara Hirsch, Tochter von Alfred Hirsch, eines prominenten jüdischen DDR-Schriftstellers, der dank seiner Vergangenheit als kommunistischer Widerstandskämpfer gegen das Naziregime viele Privilegien genießt. In Episoden zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Jahr 2017 erfahren wir Details über die Geschichte der Familie, wobei manche Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. So ergibt sich nach und nach ein umfassendes Bild und so manche Erklärung für das zerstörerische Verhalten, das Alfred und Adele Hirsch ihren Töchtern gegenüber an den Tag legen. Während ihre jüngere Schwester Dascha an der oft lieblosen Behandlung und am sexuellen Missbrauch zerbricht, lernt Tamara, damit umzugehen, auch wenn der Preis dafür hoch ist.
Gleichzeitig bietet Franziska Hauser Einblicke in das Leben der Upperclass in einer klassenlosen Gesellschaft: Leben im Schloss, Auslandsreisen, Hauspersonal und Designerkleidung aus Paris, ein Wochenendhaus am See und wenn notwendig auch ein eigens für die Tochter geschaffener Studiengang, alles bis auf Widerruf.
Meine Meinung: Als ich das beim Verlag angeforderte Rezensionsexemplar in Händen hielt, bewunderte ich zunächst die Ausstattung: Schutzumschlag in Pastellblau, dunkelgrüner Moiréeeinband, Lesebändchen. Fühlte sich gut an, aber was den Wohlfühlfaktor betraf, blieb es bei der Haptik. Das Unbehagen, das die Schilderung der einzelnen Episoden von Beginn an hervorruft, steigert sich zur Beklemmung, auch wenn Tamara die schlimmen Dinge, die ihr widerfahren, mit innerer Distanziertheit und Kälte hinzunehmen scheint. Gegen Ende des Romans formuliert die Autorin dafür auch die Erklärung, die den Leser*innen schon klar geworden ist:
Tamara war beleidigt. Ihr Unvermögen, die leichten Verletzungen von den schweren zu unterscheiden, war eine bleibende Schwierigkeit. Sie nahm die schweren Verletzungen leicht, weil sie sie in ihrer Außenlage ablegte. Die leichten Verletzungen aber nahm sie unverhältnismäßig schwer. (S. 380)
In den Vorbemerkungen des Romans bedankt sich Franziska Hauser ausdrücklich für die Zustimmung ihrer Familie zur Veröffentlichung der Geschichte in Romanform, und diese Zustimmung kann wohl niemandem leicht gefallen sein, auch wenn die Herangehensweise der Autorin bei der Schilderung der Geschehnisse und der Darstellung der seelischen Abgründe fast behutsam zu nennen ist. Jedes Wort an der richtigen Stelle, keine Anklage, stattdessen der meiner Meinung nach gelungene Versuch, das Unerklärliche zu erklären, das Unentschuldbare verständlich zu machen.
Ich habe mir mit dem Roman zunächst sehr schwer getan, ihn nach der Hälfte zur Seite gelegt, nach einigen Wochen wieder zur Hand genommen, das bereits Gelesene nochmals durchgeblättert, und dann konnte ich plötzlich nicht schnell genug zum Ende kommen. Erst in der Rückschau habe ich verstanden, wieso die Episoden nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern auf den ersten Blick willkürlich angeordnet waren. Nur so ist die Distanz möglich, die die Schilderungen aushaltbar macht und die Erklärungsversuche gelingen lässt.
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