Unterleuten ist ein fiktives Dorf irgendwo in Brandenburg. Idyllisch gelegen, nicht zu weit entfernt von Berlin. Alteingesessene und nach der Wende Neuzugezogene bilden die Dorfgemeinschaft. Wobei Gemeinschaft hier sicherlich das falsche Wort ist. Und wie in jedem Dorf gibt es Wortführer und Mitläufer, Neuerer und Wahrer des Althergebrachten.
Da wären Gerhard Fließ mit Frau Jule, ein ehemaliger Dozent der Humboldt-Universität, der eine seiner Studentinnen geheiratet und in einem Anflug von Lebenserneuerung eine Stelle als Vogelwart angenommen hat, um auf das entschleunigte und unverbrauchte Land zu ziehen. Dann Linda Franzen, ebenfalls neu zugezogen, die mit ihrem Freund eine alte Villa renoviert, ein Pferdemädchen mit etwas naivem Machtwillen. Schaller, der nach einem schweren Unfall sein Leben neu aufbaut und mühsam versucht, seine Vergangenheit zu rekonstruieren. Gombrowski, der Leithengst des Ortes, dessen Eltern vor der Enteignung das Land ringsum gehörte, und der mit Land und Dorf verwachsen, patriarchalisch seine Entscheidungen trifft und durchsetzt. Kron, der ewige Verlierer und Gegenspieler von Gombrowski, ebenso verwurzelt im Dorf. Arne Seidel, Bürgermeister von Gombrowskis Gnaden, der aber sein Bestes für das Dorf zu geben versucht. Und noch weitere Personen, die im Dorfgeflecht größere und kleinere Rollen spielen.
Nachdem wir nun also das Personal kennen, brauchen wir einen Stein des Anstoßes, um das Dorf in Aktion zu erleben: ein geplanter Windpark vor den Toren und zwar in unmittelbarer Sichtweite.
Auf dieser Grundlage nun seziert Juli Zeh das Dorfleben, fürchtet dabei kein Klischee und keine Zuspitzung. Sie läßt die Bewohner nacheinander zu Wort kommen und ihre Weltsicht und Meinung kundtun. Dabei schafft sie das eigentlich Unmögliche: jeder Einzelne hat, wenn man seine Sicht der Dinge erst einmal kennt, nachvollziehbare Gründe für sein Handeln, jeder Einzelne hat sympathische Züge und vor allem hat jeder Einzelne seine eigenen blinden Stellen, seine beschönigten Erinnerungen, seine passend verdrehten Tatsachen und Entschuldigungen. Juli Zeh schont ihre Charaktere nicht. Sie zeigt das ganze kleinliche, eigensüchtige, egozentrische Denken der Dorfbewohner, die Versuche, hehre Ideen auf schlicht neidische oder egoistische Handlungen aufzupfropfen, die Versuche, die Vergangenheit dem eigenen Wunschdenken anzupassen und dem Gegenüber als alleinige Wahrheit aufzudrängen, und sie zeigt, dass eine kollektive Erinnerung trotzdem die Summe der Erinnerungssplitter eines jeden Einzelnen ist.
Und wer sich dabei an sein eigenes Umfeld erinnert fühlt, hat den Sinn des Romans wohl erkannt. Denn unter Leuten ist man überall, jedes Dorf, jeder Verein, jede Gemeinschaft oder Versammlung funktioniert so. Weil Menschen eben so sind, weil eben jeder seine egoistischen kleinen Ideen gerne mit einem höheren Sinn verbrämt, weil das Gras auf der anderen Seite des Zaunes meistens grüner ist und die Bäume dort mehr Äpfel tragen, weil man selbst gerne am besten weiß, wie die Dinge laufen müssten, damit die Welt ein schönerer Ort ist und ebenso gerne vergisst, dass ein „schönerer Ort“ von jedem anders definiert wird.
Neben all dem ist „Unterleuten“ aber auch ein unterhaltsam geschriebener Roman, der trotz seiner immerhin 640 Seiten spannend bleibt bis zum Schluß. Ein Roman, der zwar Klischees nicht scheut, aber niemals auf „Gartenzwerge“-Niveau fällt, der Idylle zwar zeigt, aber nur um sie danach zu dekonstruieren. Ein definitiv lesenswertes Buch für alle, die „Unter Leuten“ leben.
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