In Der stille Amerikaner (The Quiet American) verarbeitet der britische Autor Graham Greene die während seiner Vietnam-Aufenthalte in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre gesammelten Eindrücke und Erfahrungen. Laut seinem Biographen Michael Shelden trug er aber nicht nur Material für seinen Roman zusammen, schrieb Reportagen für das Life Magazine und machte Interviews, unter anderem mit dem kommunistischen Diktator Ho Chi Minh, sondern arbeitete auch für den britischen Geheimdienst, konsumierte reichlich Alkohol und Opium, vertrieb sich die Zeit im Bordell und begab sich absichtlich an möglichst gefährliche Kriegsschauplätze, in der Hoffnung, dort sein Leben auszuhauchen, um damit seiner in Großbritannien verbliebenen Geliebten Catherine Crompton Walston das Herz zu brechen. Nachzulesen ist das alles in Kapitel 19 von Sheldens leider nur antiquarisch und auf Englisch erhältlicher Biographie Graham Greene: The Man Within.
Der Brite Thomas Fowler ist in der letzten Phase des Indochinakriegs, in dem die Franzosen ihre Kolonie gegen die kommunistische Việt Minh zu verteidigen versuchen, als Kriegsberichterstatter in Saigon tätig und wartet eines Abends vergeblich auf den viele Jahre jüngeren amerikanischen Handelsdelegierten Alden Pyle, der ihm Monate zuvor seine vietnamesische Geliebte Phuong ausgespannt hat. Nachdem klar geworden ist, weshalb Pyle nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erschienen war, erinnert sich Fowler an dessen Ankunft in Saigon und die Geschehnisse danach.
Meine Meinung: Der stille Amerikaner ist ein typischer Graham Greene: Vor dem Hintergrund eines vom Krieg gebeutelten Landes erzählt ein von inneren Konflikten und Passionen Geplagter, der deutliche Züge des Autors trägt, eine Geschichte von Liebe und Verrat, eingebettet in politische Wirren. Die Erzählung ist gleichzeitig eine philosophische Betrachtung der Abgründe der menschlichen Natur und eine satirische Betrachtung der Wesenszüge, die der Autor bestimmten Berufs- oder Bevölkerungsgruppen oder auch Nationalitäten zuschreibt. Greene hat keine Hemmungen, das gesamte Repertoire an Stereotypen auszuschöpfen, und trotzdem gelingen ihm genaue Charakterstudien, und er schafft es, die Atmosphäre zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort der Welt einzufangen und zu vermitteln.
Pyle gilt als Karikatur, mit der sich der Brite Greene über das Selbstbild der US-Amerikaner und ihr Agieren gegenüber dem Rest der Welt lustig gemacht hat, aber in Anbetracht der Geschehnisse im Buch selbst und der weltpolitischen Entwicklungen seither bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Auch die Europäer bekommen vom Autor ihr Fett ab: Er lässt Fowler politische Ansichten vertreten und Urteile fällen, die durch den Umgang der westlichen Staaten mit den politischen Kräften in Krisen- und Kriegsgebieten von den 1950er-Jahren bis heute immer wieder Bestätigung finden. Greene liefert aber keine abstrakten politischen Analysen, er zeigt Menschen in sehr konkreten Situationen und entwirft in wenigen Sätzen Kriegsszenarien, deren Bilder mich noch lange begleiten werden.
Für Michael Shelden ist The Quiet American die Arbeit eines müden und zu wenig fokussierten Schriftstellers, der seine Richtung verloren hat und bei dem die Kriegsszenen zu viel Raum einnehmen (1994, S. 402f). Ich kann diesem Urteil absolut nicht zustimmen. Greene, Jahrgang 1904, war vermutlich schon ein ziemlich kaputter Typ, als er diesen Roman schrieb, aber das Ergebnis seiner dreijährigen Arbeit ist eine Erzählung, die auf 180 Seiten die Widersprüchlichkeiten sowohl zwischenmenschlicher als auch politischer Beziehungen portraitiert und mich auch mehr als 60 Jahre nach ihrer Veröffentlichung noch gefesselt hat.
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