Sofia Papastergiadis ist 25 Jahre alt und hat fast ihr ganzes Leben damit verbracht, ihre alleinerziehende Mutter Rose zu umsorgen. Während sie zu einer Expertin und einer medizinischen „Detektivin wider Willen“ geworden ist, was die rätselhaften Symptome ihrer Mutter angeht, die dazu führen, dass sie die meiste Zeit nicht in der Lage ist, ihre Beine und Füße zu bewegen oder zu spüren, hat Sofia ihr eigenes Leben zurückgestellt und sogar ihre Dissertation abgebrochen. Als sie von einem Arzt in Spanien hört, der mit seinen unkonventionellen Methoden ihre letzte Hoffnung auf Besserung wird, reist sie zusammen mit ihrer Mutter nach Almería. Dort lernt sie nicht nur den dubiosen Dr. Gómez, sondern auch die schöne Berlinerin Ingrid und den Strandwächter Juan kennen, von denen jeder einen Teil auf seine Art und Weise dazu beiträgt, dass Sofia anfängt, über sich selbst und ihr Leben zu reflektieren, und sich als von ihrer Mutter unabhängige Person zu betrachten.
So wie ich „Heiße Milch“ an einem Tag verschlungen habe, so schwer finde ich es, im Nachhinein darüber zu sprechen oder eine Meinung zu formulieren, die der Geschichte und all den Themen und Motiven, die Deborah Levy hier unterbringen will, gerecht wird. Der Roman entfaltet eine ungeheure Sogwirkung, lässt man sich erst einmal auf die Geschichte, die hauptsächlich in der Hafenstadt Almería im Süden Spaniens spielt, ein. Doch ganz wie Sofia sich nicht von den Quallenwarnungen vom Schwimmen im Meer abhalten lässt und immer wieder schmerzende Medusenbisse davon trägt, so fühlt man sich als LeserIn. Man schwimmt in der symbolträchtigen und gelegentlich schwarzhumorigen Sprache voller Metaphern (die allerdings mal mehr, mal weniger schön sind), und immer fühlen sich Szenen an wie Nesseln, deren Gift sich langsam verteilt und die vielschichtiger sind als auf den ersten Blick erfassbar.
So zieht sich beispielsweise der Mythos um die Medusa durch die gesamte Geschichte und greift dabei in die verschiedenen Dimensionen der Erzählung ein, sei es die verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung, Sofias Emanzipation oder die Entdeckung ihrer Sexualität. Auch Sprache und ihre Bedeutung, Schuld, Angst und der menschliche Körper spielen eine große Rolle in diesem Buch, das sich um die mysteriösen Symptome von Sofias Mutter dreht, die zusammen mit der konstanten, undankbaren Demütigung und Herabsetzung durch Rose zu Sofias Entfremdung von sich selbst und der Welt, ihren Schuldgefühlen, ihrer Perspektivlosigkeit und ihrem Wunsch nach einem größeren Leben führen.
„Heiße Milch“ ist ein Roman, dessen vielschichtige, (alb)traum-artige Erzählung mich zwar komplett eingenommen hat, manchmal aber nicht richtig zum Punkt zu kommen und die einzelnen Fäden richtig zusammenzuführen schien. Insgesamt gefiel mir Levys oft lyrische und schöne Sprache, mit der sie viel in wenigen Worten sagt. Aber genau so wie die Figuren, die manchmal so schräg überzeichnet und symbolisch aufgeladen waren, dass sie den Punkt erreichten, an dem ich mich von ihnen wieder entfremdet fühlte, so eigenartig waren manche Metaphern, die z.B. einen Körper als ’so lang und hart wie eine Autobahn‘ beschrieben. Nichtsdestotrotz hat dieses Buch einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, nicht zuletzt durch die bizarre Atmosphäre und die Geschichte, die sich entlang so vieler Motive bewegt und dabei bis zum Schluss überrascht.
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