Es gibt sie, diese Bücher, die einen von der ersten Zeile an in Bann schlagen, die einen vergessen lassen, dass man Pläne hatte, womöglich sogar Termine, die einen mitreißen, durchrütteln, nicht los lassen, bis man die letzte Zeile gelesen hat und noch lange danach. „Krieg und Terpentin“ ist so ein Buch. Allerdings ist es nicht thrillerartige Spannung, die einen festhält, sondern die Geschichte eines Lebens, des Lebens von Stefan Hertmans‘ Großvater.
Zwei Hefte hinterlässt er seinem Enkel, eines über seine Kinder- und Jugendjahre in Gent und eines über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg. Hertmans beginnt zu recherchieren, zu rekonstruieren, verbindet Erinnerungen mit neu gefundenen Erkenntnissen und schreibt schlußendlich dieses Buch.
Geboren 1891, gestorben 1981. „Doch zwischen diese beiden Daten drängen sich zwei Kriege, unvorstellbare Massaker, das rücksichtsloseste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte, Aufstieg und Verfall der modernen Kunst, die weltweite Expansion der Motorindustrie, der Kalte Krieg, Bildung und Zerfall großer Ideologien(…)“
Schon die Beschreibung der Jugendjahre ist fesselnd. Der Vater ist Kirchenmaler und gesundheitlich sehr angeschlagen, die Mutter hält die Familie zusammen, näht neben der täglichen Arbeit, um Geld dazu zu verdienen für die fünf Kinder. Schon früh muss jeder seinen Teil beitragen, um die Familie über Wasser zu halten. Mit dreizehn Jahren beginnt Urbain Martien, so der Name des Großvaters, eine Lehre in einem Eisenhüttenwerk. Narben auf seinem Rücken zeugen von Härte und Gefahren dieses Handwerks. Später wechselt er zum Militär. Und damit beginnt die prägende Zeit in seinem Leben. Er erlebt den Ersten Weltkrieg in all seinem Grauen, wird dreimal schwer verwundet und dreimal nach der Genesung zurückgeschickt in diese Hölle. Er zeichnet sich durch besondere Tapferkeit aus, erhält Medaillen ohne Zahl, aber keine Beförderung, da er als Flame in einem wallonisch geführten Heer einen schlechten Stand hat.
Diese Kriegsbeschreibungen, teilweise fast unerträglich zu lesen, sind es, die den Kern des Buches ausmachen. Die das Leben des Großvaters ausmachen. Der Versuch, das Erlebte zu verarbeiten, allein, denn Kriegstraumata-Behandlung gab es zu dem Zeitpunkt nicht, führt zu Verfolgungswahn und zeitweiliger Einweisung. Das „danach“ wird still ertragen, mit erhobenem Haupt, aber zerbrochenem Rücken. Die Welt, in der er aufgewachsen ist, gibt es nicht mehr.
Stefan Hertmans ist es gelungen, einen autobiographischen Roman zu schreiben, der ein anonymes Grauen mit Gesichtern und Namen versieht und es damit einerseits erfassbar macht und andererseits die Unfassbarkeit des Geschehens verdeutlicht, und der ein Schlaglicht wirft auf einen Krieg, der immer im Schatten des nachfolgenden Krieges steht, aber doch den apokalyptischen Reitern Tür und Tor geöffnet und damit eine neue Zeit der Kriegsführung eingeläutet hat.
Ein berührendes Buch, großartig geschrieben, eine Liebeserklärung an den Großvater, dessen Eigenarten und Verhalten dem Autor erst lange nach seinem Tod erklärbar werden.
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