Eine Schatzkiste voller Abenteuer

Der Medicus besprochen von Janina am 11. Januar 2018.

Bewertung: 4 Sterne

Nach geschätzt zwanzig Jahren habe ich dieses Buch wieder zur Hand genommen und erneut gelesen. Und es hat nichts an Farbe, Spannung und Deftigkeit verloren.

Um 1021 in England. Robert Jeremy Cole, der, in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen, früh seine Eltern verliert, macht eine Lehre bei einem Bader. Zunehmend leidet er unter seinem mangelnden medizinischen Wissen und beschließt, sich in Isfahan unter Avicenna zum Medicus ausbilden zu lassen. Das ist allerdings nicht ganz einfach, denn nicht nur die große Entfernung ist ein Hindernis, sondern auch die Tatsache, dass dort nur Moslems und Juden aufgenommen werden.

Im Grunde ist das ganze Buch eine farbenprächtige Abenteuersage. Es kommt alles darin vor, was man dafür braucht: der arme Junge, der den Gral  sucht (in diesem Falle medizinisches Wissen) und die Prinzessin bekommt (Mary Cullen, rothaarige Tochter eines schottischen Schafzüchters) und dafür allerhand Abenteuer und Prüfungen durchleben muss. Es wird geprügelt, gemordet, gehurt; es gibt blutige Vollstreckungen, den Kampf gegen die Pest und einen Sandsturm; aber auch die für einen Europäer des Mittelalters ungewöhnliche Erkenntnis, dass Juden und Moslems Menschen sind, mit denen man sich problemlos bestens verstehen und sogar anfreunden kann; es gibt Hass, Wut und Ungerechtigkeit neben Liebe, Milde und Hilfsbereitschaft, kurz, wir erleben das ganze pralle Leben Coles, so unwahrscheinlich es auch ist, mit all seinen Gerüchen, Geschmäckern und Geräuschen.

Dabei ist es völlig uninteressant, ob der Autor sich dabei an historische Gegebenheiten gehalten hat, ob Coles Reise so überhaupt jemals möglich gewesen wäre. Es ist ja das Wesen der Sage Unmögliches möglich zu machen, das Alltägliche zu schmücken bis zur Unkenntlichkeit, es größer, schöner und voller zu machen. Und so haben wir hier einen prachtvollen Bilderbogen mit strahlenden Farben und allen möglichen Ausschmückungen, der uns tief hineinführt in eine Phantasiewelt, die grob dem ähnelt, was wir wissen und kennen, und zu einem Helden, der aus jedem Abenteuer gestärkt hervorgeht und unbeirrt an seinem Traum festhält, über alles hinwegschreitend, was man ihm in den Weg wirft.

Und gerade dieses unbekümmert an der Geschichte festhalten, unterscheidet den „Medicus“ von anderen historischen Romanen und ihren Autoren, die zwanghaft versuchen ihre Erzählungen in eine bestimmte Zeit zu zwängen, sich vom Machbaren einschränken lassen und akribisch jeden Löffelstiel beschreiben, um ihr historisches Wissen zu belegen. Dazu hat Noah Gordon keine Zeit. Denn er hat eine Geschichte zu erzählen, die zwar in einer bestimmten Zeit spielt, aber im Grunde zeitlos ist. Die von dem kleinen Jungen, der an seinem Traum festhält, den Drachen besiegt und die Prinzessin gewinnt. Wen kümmern da schon Löffelstiele?

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