Mit zehn Jahren wird Karl in ein Internat gebracht. Sein Eltern, ein berühmtes Künstlerpaar, möchten ihm „ein normales Leben ermöglichen“, „einen eigenen Weg außerhalb ihrer Berühmtheit.“ Im Grunde schieben sie ihn aber schlicht ab, weil die Verpflichtung sich um ein Kind zu kümmern sie von der künstlerischen Arbeit abhält. Im Leben des Ehepaars Stiegenhauer ist nur Raum für die Liebe zueinander und die gemeinsame Kunst.
Zwanzig Jahre später reist Karl, inzwischen selbst ein bekannter, aber ins Mittelmaß abrutschender Künstler, zurück nach Leinsee, den Ort, wo er seine Kindheit verbracht hat und wo die Eltern weiterhin gewohnt haben. Seine Mutter liegt unheilbar krank im Krankenhaus, der Vater hat sich daraufhin das Leben genommen. Karl muss sich seinen Erinnerungen stellen und nun tatsächlich einen eigenen Weg finden, sein Leben zu gestalten. Unerwartete Hilfe findet er bei der achtjährigen Tanja, deren unbekümmerte Lebensfreude und Neugier verschlossene Türen öffnet.
„Leinsee“ ist der Debütroman Anne Reineckes, ein Debüt, das beeindruckt und auf weitere Arbeiten der Autorin hoffen lässt.
Feinsinnig und zugleich kraftvoll zeichnet sie Karls Weg, zeigt seine Wunden und Narben und scheut sich auch nicht, dabei an Grenzen gesellschaftlicher Norm zu rütteln. Ihm zur Seite stellt sie Tanja, Elfe und Kobold zugleich, nicht wirklich greifbar, aber spürbar anwesend und Karls Denken vereinnahmend.
Mit scheinbar müheloser Hand malt Anne Reinecke Szenen, weiß, was und wen sie ins Licht stellt, oder wo sie lieber nur andeutet. Sie scheut sich auch nicht zur Karikatur zu greifen, wenn es denn nötig ist, wie geschehen bei „Buddy Holly“, dem Assistenten der Eltern. Und so ist ein, trotz der Ernsthaftigkeit der Themen, schwereloser und luftiger Roman entstanden, ein Aquarell eines Lebenswegs.
Eine ganz besondere Freude waren für mich die Kapitelüberschriften. Eine Farbpalette von „Teichgrün“ über „Gottweiß“ und „Salamirot“ bis zu „Klirrsilbern“ gibt die Stimmung des Kommenden vor oder Erinnerungen eine Farbe. Ein weiteres Zeichen dafür, wie sorgsam dieser Roman komponiert, wie sehr auf Details geachtet wurde.
Ein Künstlerroman, eine Liebesgeschichte, eine Erzählung über Selbstfindung und Vergangenheitsbewältigung, dabei nie überladen und ohne Längen, und daher ein wirklich rundum gelungenes Buch.
Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.
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