Still halten. Die Füße still halten. Die Hände still halten. Den Mund halten. Geduldig bleiben. Es über sich ergehen lassen. Frau sein. Nicht sein. Jovana Reisinger ist ein fulminantes Debüt gelungen. Die psychisch erkrankte Protagonistin, man erahnt die Massendiagnose Burnout, die nichts weniger ist als Depression, soll sich ein Jahr lang schonen, um zu genesen. Doch statt der Gesundung lässt Reisinger die Frau, die zwischen der ersten und dritten Person schwankt, zerbrechen. An der Gesellschaft, den Rollenerwartungen, aber vor allem an der sozialen Kälte. Der Kälte, die sich in die Herzen der Menschen gefressen und die Empathie eingefroren hat.
Hadernd mit ihrer Krankheit und der Zurückweisung der Welt, wird die junge Frau durch die Nachricht der sterbenden Mutter nur noch mehr emotional überfordert. Aus der Binnenperspektive lässt Reisinger die LeserInnen den unausweichlichen Zusammenbruch erleben. Nach dem Tod der Mutter zieht die Frau in ihr Elternhaus am Waldrand eines kleinen Dorfes. Hier wartet sie auf die Ankunft ihres Mannes. Hier wird das Still halten zum stillen Abstieg. Hier wartet nichts und ganz sicher keine Genesung. Hier sind nur die Ängste. Und die Ängste gebieren Ungeheuer. Und wie bei Goyas Schlaf der Vernunft, sind es auch bei Reisinger schwarze Vögel, die das Sinnbild der Unvernunft, der Angst sind.
„Ich feuere einen Testschuss ab. Diesmal fällt die Krähe nicht nur benommen und dämlich auf den Grund. Diesmal zerfetzt es ihr den ganzen Körper. So ist das also mit einem Jagdgewehr. Ich höre die Insekten. Als nächstes müssen wir die vergiften. Ehe sie sich über den Grund hermachen. Das ist ein endloser Kampf.“
„Der Natur werd ich’s jetzt zeigen!“
Die Frau beginnt einen Krieg mit der Natur. Letztlich einen Krieg mit den eigenen Gefühlen, dem Natürlichen. Vor den Augen der LeserInnen entsteht ein Kaleidoskop des Untergangs. Dabei wird Reisinger nie explizit. Es ist ein Werk das interpretiert werden will. Es ist nicht nur die Frau, die am Rollenbild und Rollenverständnis zugrunde geht. Es ist eine Gesellschaft, die sich im Kampf mit der Natur befindet. Und dabei meint Natur vor allem das Lebendige, das Bejahende, das Fröhliche, die Liebe. Und während die Frau still hält, erfahren die LeserInnen en passant etwas über die Lebensumstände, die zur jetzigen Situation geführt haben.
So wie die Geschichte vielerlei Anleihen in der Psychoanalyse (vor allem Freud und Fromm) zu haben scheint, so ist der Sprachstil dicht an der sogenannten freien Assoziation angesiedelt. Ein Begriff eines vorausgehenden Satzes führt zu einem neuen Satz. Sprichwörter werden seziert, verändert, umgedreht. Nomen führen zu Adjektiven und umgekehrt. Der gepflegte Pfleger. Reisinger liebt die Sprache und spielt mit ihr. Aber nicht zum Eigenzweck, sondern stets überwiegt das Gefühl, direkt im Kopf der jungen Frau dabei zu sein. Es sind ihre Gedanken. Es sind ihre teils wirren, schnellen, assoziativen Empfindungen und Wahrnehmungen. Es ist eine Authentizität, die geradezu erschreckt, aber auch fasziniert.
Reisingers Debüt ist nicht einfach ein Roman, nicht einfach Gesellschaftskritik und auch nicht nur ein Buch für Sprachliebhaber, es ist in Gänze Kunst. Während der Buchmarkt überschwemmt ist mit Handwerk, teils natürlich solidem und auch wunderbarem Handwerk, sind die wenigen Romane, die als Kunstform gelesen werden wollen, rar gesät. Man kann Still halten öfter lesen, sogar direkt hintereinander. Es ist nicht einfach die Geschichte, von der man einmal wissen möchte, wie sie ausgeht, es ist das Sprachspiel, das einen immer wieder einfängt und von Satz zu Satz treibt. Beim Lesen entsteht der Flow, wie er sonst nur beim eigenen Tagtraum vorkommt. Und wie die Träume, muss auch Still halten gedeutet werden. Mehr kann ein Buch nicht.
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