Giulia Becker: „Das Leben ist eins der Härtesten“

DAS LEBEN IST EINS DER HÄRTESTEN,DAS LEBEN IST EINS DER HÄRTESTEN | GUILA BECKER besprochen von Hauke Harder am 4. Juni 2019.

Bewertung: 5 Sterne

Ein toller, witziger Lesespaß. Es geht um Menschen in einer Kleinstadt. Es sind Figuren, die herrlich schräg und am Rand der Gesellschaft leben. Beim genaueren Hinsehen erlebt man die Protagonisten aber mittendrin in unserer Gesellschaft. Sie agieren in Umfeldern, die eine Zuflucht aus der Realität anbieten. Zum Beispiel eine Bahnhofsmission, die vom Leiter eher als trendiger Aufenthaltsort umfunktioniert wird und bloß nicht mehr die eigentliche Zielgruppe einer solchen Mission ansprechen soll. Ein Badeparadies Tropical Island, dass auf Dauer auch schwer erträglich zu sein scheint. Die Ferienanlage gaukelt ja irgendwie nur das tropische Paradies vor und ist dann doch eine verteuerte Schwimmhalle mit chlorhaltigem Wasser und versalzenem Essen. Die Handlung wird bestimmt durch das Anhalten und den Versuch des Ausbruchs aus dem Gesellschaftlichen und den Beziehungsproblemen. Dies wird verdeutlicht durch das Betätigen der Notbremse eines fahrenden Zuges. Aber dies passierte bereits Jahre vor der eigentlichen Handlung, bestimmt aber immer noch das Leben der Protagonisten.

Giulia Marie Becker ist eine deutsche Autorin, Fernsehmoderatorin und Musikerin. Bekannt ist sie durch die Fernsehsendung „Neo Magazin Royale“ und als Mitglied im Autorenteam von Jan Böhmermann. Nun hat sie ihr sehr witziges und übersprudelndes Debüt geschrieben, das besonders durch das Personal begeistert. Im Vordergrund steht Silke. Sie war mit einem herrischen Mann verheiratet und als sie vor 27 Jahren alle ihre beruflichen sowie privaten Interessen hinter die ihres Mannes stellen sollte, zog sie damals die Notbremse. Da sie dies im wahrsten Sinne des Wortes gemacht hatte, verlor sie ihren Job, ihre Ehe und hat seitdem einen hohen Berg an Schulden. Ein Teil der Schadensersatzforderungen wurde in Sozialstunden umgewandelt, die sie bis heute in der Bahnhofsmission des Ortes abarbeitet. Ihre Familie und Freunde haben sie mit ihren Problemen alleingelassen. Nur Renate hält weiterhin zu ihr. Renate könnte die kleine Schwester von Cindy aus Marzahn sein. Aber auch sie leidet gerade sehr. Ihr Hund ist verstorben. Dies ist auch der Einstig in das Buch, der trotz eines toten Hundes sehr witzig ist. Der Name des Schoßtieres ist Mandarine Schatzi. Als Renate ihr Herzstück alleine in der Wohnung gelassen hatte, erstickt der Hund in einer Punica-Flasche. Ihre Trauer bewältigt Renate erfolgreich mit Teleshopping. Dann gibt es da noch die Männer: der Taubenzüchter Willy-Martin, der sich beim Onlinespiel in seine Gegnerin verguckt. Der kurze Chat wird schnell Realität, denn die Frau zieht kurzerhand zu Willy-Martin zusammen mit ihrem sabbernden Hund. Der Obdachlose Zippo, der sich mit Postkarten-Lyrik durchs Leben kämpft, dann aber so sehr erkrankt, dass er Silkes ganze Aufmerksamkeit bekommt. Plötzlich taucht auch noch Silkes Exmann in der Bahnhofsmission auf. Er will Silke mit seiner gespielten Lebensveränderung zurückerobern.

Silkes ältere Nachbarin, Frau Goebel, will, bevor sie das Zeitliche segnet, noch einmal unter Palmen liegen und Aras sehen. Kürzlich sah sie im Fernsehen einen Beitrag zum ostdeutschen Paradies Tropical Islands. Sie kann Silke und Renate überzeugen, dass auch diese unbedingt mal eine Auszeit benötigen würden. Willy-Martin, der ebenfalls auftaucht, weil er vor seiner neuen Bekanntschaft flieht und Silke aus einer Selbsthilfegruppe kennt, reist mit den drei Frauen über das Wochenende in das verheißungsvolle Badeparadies. Doch ob die vier durch diese spontane Reise genügend Abstand zu ihren eigentlichen Problemen erhalten, wird sich zeigen müssen. Eventuell sind dann noch Rocksongs von Doro, Frank Rosins ehrliche Fernsehbeiträge oder ein Spendenlauf nötig, um den schrägen Figuren die Augen zu öffnen.

Ein schönes, buntes Leseabenteuer voll herrlicher, schräger Protagonisten und Handlungsstränge. Ein Text, bei dem man immer wieder viel zum Schmunzeln und oft zum Lachen animiert wird. Die Charaktere wachsen einem ans Herz und letztendlich bangt man mit diesen mit. Ein launiges Buch, das neben den deprimierenden Leben und dem ganzen Schein und Sein einen der möglichen Lebenswitze erzählt.

 

zuerst veröffentlich auf Hauke Harders leseschatz

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