Melody Shee ist Irin. Und sie ist schwanger. Allerdings nicht von ihrem Ehemann, der sich heimlich sterilisieren liess. Schwanger ist sie von ihrem siebzehnjährigen Nachhilfeschüler, einem Traveller, einem vom fahrenden Volk.
Im streng katholischen Irland ist das eine Todsünde. Was folgt, sind Beschimpfungen und fliegende Steine. Melody dagegen freundet sich immer mehr mit den Travellern an…
Donal Ryan hat mit „Die Lieben der Melody Shee“ einen Roman jenseits aller romantischen Irlandvorstellungen geschrieben, ohne klingende Bächlein und hüpfende Leprechauns. Ryans Irland ist geprägt von uralten Vorurteilen, von verknöcherten Vorstellungen und der Wahrung des Scheins.
Der Roman hat mehrere Erzählstränge, sehr eng verwebt und verknüpft, die Charaktere haben alle tiefwurzelnde Gründe für ihr Handeln. Bei Ryan gibt es kein „schwarz“ oder „weiß“. Keine der auftretenden Personen ist durchgehend böse oder ausschließlich liebevoll. Jeder ist geprägt durch Erlebnisse, sein direktes Umfeld und gesellschaftliche Normen.
Melody nutzt die Zeit der Schwangerschaft, um über ihr Leben nachzudenken, über Liebe und Schuld, über Vergebung und Sühne. Bei den Travellern lernt sie völlig andere Lebensgesetze kennen, Blutrache und arrangierte Ehen, aber auch festen Familienzusammenhalt und Füreinander Einstehen. Und so keimt in ihr ein weitreichender Entschluss…
Ryan zeigt, dass in einer katholisch geprägten, erzkonservativen Gesellschaft ein Fehltritt reicht, um eine unfassbare Brutalität zu entfesseln, dass das Gefühl des „im Recht seins“ es ermöglicht, Hemmungen fallen zu lassen und Jahre des Zusammenlebens zu ignorieren. Und dass eine solche, sich als zivilisiert betrachtende Gesellschaft schlußendlich gar nicht so weit entfernt ist von den archaischen Gesetzen der Traveller, wo eine nicht erfolgende Schwangerschaft, die schuldlose Unfruchtbarkeit einer Frau, einen blutigen Familienkrieg heraufbeschwört.
Ein Roman, der mich so schnell nicht wieder losgelassen hat, der mich wieder einmal hat nachdenken lassen über die Rechte der Frau am eigenen Körper, und wie weit wir immer noch davon entfernt sind, dieses Recht zu besitzen. Darüber, dass immer noch weitestgehend der männliche Blickwinkel zählt und das nicht nur in konservativen katholisch geprägten Gesellschaften.
Ein Roman, der aber nicht nur wegen des Inhalts lesenswert ist, sondern auch aufgrund seiner Sprache, der präzisen Formulierungen. Ryan ist kein Freund von Weitschweifigkeit, er schreibt auf den Punkt, nahezu lakonisch. Und trifft dabei für mich den richtigen Ton, einen Ton, der seine Charaktere menschlich erscheinen lässt, jenseits aller Perfektion.
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