Um den Kriegswirren in Berlin 1944 zu entkommen, reist ein Filmteam der UFA zu angeblichen Dreharbeiten in die bayrischen Alpen, in das verschlafene Dörfchen Kastelau. Auf engstem Raum und mit primitiven Mitteln versuchen sie den Eindruck aufrechtzuerhalten, sie drehten einen kriegswichtigen Film. Im Laufe der Zeit und unter dem Druck der Situation zeigt dabei jeder seinen wahren Charakter.
Erzählt wird in der Rückblende, mit Hilfe von Material, bestehend aus Drehbuchschnipseln, Interviews mit einer Darstellerin und Tagebucheinträgen des Drehbuchschreibers, die ein junger Amerikaner für seine Doktorarbeit zusammengetragen hat.
Angelehnt an die letzten Kriegsmonate Erich Kästners, die dieser in seinem literarischen Tagebuch „Notabene 45“ beschrieb und die er in Tirol bei den Dreharbeiten zu dem Film „Das falsche Gesicht“ verbrachte, verfasste Charles Lewinsky einen faszinierenden Roman, der Puzzleteilchen für Puzzleteilchen die (fiktiven) Geschehnisse in dem kleinen Bergdörfchen Kastelau enthüllt. Er erzählt von Werner Wagenknecht, einem von den Nazis mit Schreibverbot belegten Autor, der unter dem Decknamen Frank Ehrenfels das Drehbuch zu dem Film namens „Lied der Freiheit“ verfasst, von Tiziana Adam, einer jungen aufstrebenden Schauspielerin und von dem später sogar in Hollywood berühmten Schauspieler Walter Arnold, der ein Meister darin ist, das Fähnlein karrierefördernd mit dem Wind zu drehen.
Trotz der nicht immer zusammenhängenden Schnipsel, gelingt Lewinsky eine eindringliche Personenzeichnung, wird Kastelau mit seinen Einwohnern und dem Filmteam lebendig. Das ist natürlich vor allem den Interviewteilen mit der wunderbaren Tiziana Adam zu verdanken, bei der man sich wirklich nicht vorstellen kann, dass es sich um eine erfundene Person handeln soll. Man wünscht sich fast, man könne sie in ihrer Berliner Kneipe aufsuchen. (Würde sie wohl gar nicht wollen. Aber trotzdem.)
Die Geschehnisse in Kastelau hallen auch nach Beenden des Buches nach. Gerade weil die Abläufe so wahrscheinlich und nachvollziehbar sind, weil sie in Teilen sicher in ganz Deutschland ähnlich abgelaufen sind, hinterlassen sie fast unmerklich Frösteln und Gänsehaut. Nicht ohne Grund stand „Kastelau“ 2014 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ein phantastisch komponierter Roman über die letzten Kriegsmonate, ein Kammerspiel über Menschen unter Druck, mehr oder weniger abgeschlossen von der Außenwelt. Über Kadavergehorsam und Mutterliebe. Über Lebenslügen und den Preis ihrer Aufrechterhaltung.
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