oder der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005
Der in Berlin lebende Autor und Journalist Moritz von Uslar schreibt 36jährig 2005 einen Roman über den in Berlin lebenden Journalisten und Mittdreißiger Walter Gieseking. Also eine Autobiografie? Ja, eine Autobiografie. Oder besser ein biografischer Monolog. Über sich und das Leben einer ganzen Generation. Der Milchkaffeegeneration. Der Neonleser-Generation. Der Was-geht-Alter?-Generation. Dieses Buch beschreibt das Kreuz, das unsere Generation trägt.
Gieseking ist mit der Ex-Freundin seines coolen DJ-Freundes José zusammen. Sie heißt Ellen, eine Adelige von Galgern (Galgen?), deren einzige Bestimmung es ist, schön zu sein und sonst nichts zu tun (na ja, ganz so platt ist es auch wieder nicht …).
„Seinen Freunden hatte Gieseking Ellens Beine, als er sie um vier Uhr früh in einer Berliner Küche mit einem Rest Wodka im Glas zum ersten Mal erblickte, als Charakterbeine beschrieben, und tatsächlich, es waren mehr als wohlgeformte Beine, kluge, kultivierte, gebildete Beine, gewachsen im Schutz einer Jahrhunderte alten gesellschaftlichen Vormachtstellung, einer lässig zur Schau gestellten Kunstbeflissenheit und eines konfus elitären Anspruchs, der da besagt: Männer denken mit dem Kopf, Frauen mit den Beinen. Uns ging es immer gut, uns wird es auch in Zukunft besser gehen. Im Folgenden: Gedacht und geschaffen haben unsere Vorfahren genug, wir reichen dieses Gut nur weiter. Aha! Also gut. Alle Achtung.“
Um irgend so etwas auszuprobieren wie Kompromisse machen oder auch nicht, Fischstäbchenessen mit oder ohne Kerzen und aneinander oder doch nur an sich selbst berauschen, verbringen die Beiden die Wochenenden in Waldstein, fernab von dem Moloch Großstadt, in der schönen erbaulichen Natur, dem „idealen Abseits“. Doch die Waldflucht gerät schnell zur Spießertour. Und weil Spießigkeit gar nicht geht, werden Fragen wie „Bist du eigentlich so, wie du dir eine Frau vorstellst?“ (Gieseking zu Ellen) und „Bei meinem Kuss empfindest du aber schon etwas, oder?“ (Ellen zu Gieseking) vom Zaun gebrochen.
„Was fand hier statt? Weshalb sollte das ausgerechnet der Moment sein? Wo wurden diese Dinge entschieden? Könnten Sie, mein Herr, mir bitte verraten, wie die Logik der scheußlichen Katastrophe hier bitte zu unterbrechen war? Der Teufel, das sah Gieseking nun deutlich, trug einen dunklen Dreiteiler, Lackschuhe und einen Gehstock mit Silberknauf. Hammereleganter Mann.“
Ellen zieht den Schlussstrich mit einem einzigen Satz: „Es macht keinen Spaß mehr.“ Für Gieseking logische Folge eines aus der Kontrolle geratenen affektierten oder echten (Wer weiß das schon?) In-Sich-Gefangenseins-und-nicht-zueinander-Findens. Der Protagonsit steigt in seine Stiefel und überwindet kampflos den die Ausfahrt versperrenden (vom Sturm der Nacht entwurzelten) Baum (Was für ein Bild!). Gieseking kehrt zurück nach Berlin in sein luxuriöses Mitte-Loch, zur Auguststraße Ecke Linien, zu den alten Kumpels José und Jonathan, zum Grau, den Pfützen und diesem ganzen coolen Quatsch.
„Noch was, auch wichtig, wieder alles wichtig, Entschuldigung. Bei Apartment gibt es die Raf-Simons–Turnschuhe. Irgendwie mit Krepp. Dreihundert Euro. Also. Ich habe sie. Wollte ich nur durchgeben. Meld dich. Tschau.“ (José zu Gieseking)
Doch die Rückkehr ist nicht mehr als eine Schleife. Auch in der Hauptstadt gilt: Wirkung, Worte, Leute, Denken, aber was? Irgendwie stimmt es nicht.
„Rasch einigten sich Gieseking und José darauf, dass es in ihrer beider Leben nur einen Wert, nur eine ewig heile und teure Macht geben sollte, die unangreifbar war, die alles überdauern und überstrahlen sollte: die Musik (…) ‚Ich komme von der schwarzen Musik.’ Gieseking sagte den trostlosen Satz ‚Bevor ich die höre …’, es liefen die Kaiser Chiefs, ‚… doch lieber gleich The Clash, das Original.’ O je. Und erschöpft stellten sie fest, dass London Calling die beste, gültigste, vollkommenste Schallplatte aller Zeiten war. Und als Gieseking Josés verzweifeltes Gesicht sah, das unter dem Zigarettenrauch wippend, ein Ventil für sein Unwohlsein suchte, korrigierte Gieseking sich rasch: ‚Klar, so kann man es auch nicht sagen. So hat ja alles keinen Sinn.’ Und José wollte auch noch etwas sagen, vielleicht einen Gag, sagte aber nur ‚Nein’ und ‚Weiß nicht …’ und ‚Nervt mich gerade’. Und ließ es bleiben. Der Klassiker unter Freunden: der Moment, an dem plötzlich aller Kredit verspielt war, an dem plötzlich nichts mehr ging. Totale Verunsicherung. Wer ist denn der Freak neben mir? Was habe ich denn mit dem zu tun?“
Jetzt fängt das Sterben an. Gieseking reist nach München, den alten Galgern treffen. Hier erfährt er es. Waldstein, die Rückkehr steht an.
„Im grünsten Grunde. Und dann wurde – Holla, ihr Waldgeister! – der große Scheinwerfer eingeschaltet. Alles wirkte grüner, grasiger, dichter, dschungelartiger denn je zuvor. Es war Sonntag, der 5. Juni, als die gütige Fünf-Uhr-nachmittags-Sonne schien. (…) Nun also Kinderkriegen. Das Aus. Over. Elend Kleinfamilie. Ewiger Ehe-Krieg. Ehe-Grimm. Ehe. Und Gieseking spürte zum letzten Mal den Skandal, dass man mit nur einer Person – zu zweit – glücklich werden sollte. Dann spürte er den nicht mehr.“
Nein, man kann nicht sagen, dass dieses Buch keine Handlung hätte. Es gibt schon so etwas wie einen Plot. Viel wichtiger aber scheint der Stil. Staccato, alles wird rausgebrüllt. Cool, uncool. Geht das, geht das nicht, Alter. Gedanken, so, wie man sie denkt. Und dann wieder Gedanken über die Gedanken, wie man sie dachte. Nichts bleibt unausgesprochen. Eine hürdenfreie Fahrt ins Selbst. Was am Ende bleibt? Komisch: die Erinnerung an ein paar Dinge, oft gedacht: ja, genauso ist es … und die alles überragende Frage: Ist das Kinderkriegen tatsächlich der einzige Gegenentwurf zur Beliebigkeit, Leichtigkeit, Oberflächigkeit, den unendlich vielen Möglickeiten? Und: Kann man nicht auch irgendwie anders erwachsen werden?
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