Schicksalsfreundinnen

Die Neapolitanische Saga | Elena Ferrante besprochen von Niamh O'Connor am 30. März 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Vorbemerkung: Die nachstehende Besprechung enthält Hinweise auf den Plot und den Ausgang des Romans. Dieser war auch mir beim Anhören des Hörbuchs bereits bekannt, aber das hat meine Freude an dem Buch in keiner Weise beeinträchtigt. Wer jedoch sicher gehen möchte, sollte lieber nicht weiterlesen.

Obwohl mich der vierte Teil von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga nur mittelmäßig begeistert hatte, war ich trotzdem auf den ersten Band neugierig, und daher besorgte ich mir die von Eva Mattes gesprochene Hörbuchfassung von Meine geniale Freundin in der Städtischen Bücherei. Dieser erste Teil beginnt so, wie der letzte endet: Die erfolgreiche Schriftstellerin Elena Greco erhält einen Anruf von Gennaro, dem Sohn von Raffaella (Lila) Cerullo: Seine Mutter ist seit zwei Wochen spurlos verschwunden, so als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Zu dem Zeitpunkt, als dies geschieht, sind beide Frauen 66 Jahre alt und kennen sich schon ihr ganzes Leben. Elena weiß sofort, was es mit dem Verschwinden ihrer Freundin auf sich hat: Lila hat einen schon lange gehegten Plan in die Tat umgesetzt, nämlich den, sich aus der Welt zurückzuziehen, ohne auch nur ein Staubkörnchen von sich zu hinterlassen. Elena wundert sich nur wenig, denn sie kennt Lila besser als sonst jemand, aber sie findet, dass Lila wieder einmal übertreibt, und  sie fasst einen Entschluss:

Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann, unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.

Das Ergebnis sind die vier Bände der Neapolitanischen Saga.

Die Freundschaft der beiden Mädchen beginnt, als sie Anfang der 1950er-Jahre in die Grundschule des Rione, eines Armenviertels bei Neapel, kommen.  Schnell wird der Lehrerin, Maestra Oliviero, klar, dass die Mädchen, vor allem aber Lila, überdurchschnittlich begabt sind, und sie beginnt, die beiden zu fördern. Während Elenas Eltern zähneknirschend und unter finanziellen Opfern den Empfehlungen der Maestra folgen und ihre Tochter später in die Mittelschule und aufs Gymnasium schicken, bleibt Lila dieser Weg versperrt: Sie, die immer die mutigere und starrköpfigere von den beiden war, fügt sich nach einem kurzen Ausflug in eine berufsbildende Schule den Wünschen ihres Vaters und beginnt mit ihrem älteren Bruder Rino gemeinsam in der Schusterwerkstatt der Familie Schuhe zu reparieren. Hatte sie vorher die örtliche Bibliothek leergelesen und davon geträumt, mit Elena gemeinsam ein Buch wie Betty und ihre Schwestern zu schreiben und dadurch reich zu werden, setzt sie jetzt alle ihre Energien daran, durch das Anfertigen von Schuhen nach eigenen Entwürfen aus der bescheidenen Schusterwerkstatt der Familie eine erfolgreiche Schuhmanufaktur zu machen.

Meine Meinung: ‚Meine geniale Freundin‘ nennt Lila Elena, als sie sich im Alter von 16 Jahren gerade dabei ist, sich für ihre Hochzeit zurechtmacht, und sie nimmt Elena das Versprechen ab, zu studieren und das zu erreichen, was sie beide sich vorgenommen haben. Für mich ist das eine der traurigsten Szenen, die ich in einem Buch je gelesen habe, und die Aussage hat mich nicht nur traurig, sondern auch wütend gemacht.  Auf Bildung verzichten zu müssen, weil man aus einer armen Familie kommt oder ein Mädchen ist, etwas Ungerechteres kann ich mir nicht vorstellen! Elena ist klug und begabt, aber sie hat, nicht ganz zu unrecht, das Gefühl, dass sie es ohne Lilas Hilfe nicht schaffen kann. Gleichzeitig sieht sie einen inneren Zusammenhang zwischen ihrem Schicksal und dem ihrer Freundin:

‚Es war, als wäre die Freude oder der Schmerz der Einen wie durch einen bösen Zauber die Voraussetzung für den Schmerz oder die Freude der Anderen. Auch unser Äußeres schien diesem Auf und Ab zu unterliegen.‘

Lila versucht in einer Mischung aus Trotz und Schicksalsergebenheit, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Elena ist dabei eine genaue, schonungslose und ehrliche Beobachterin sowohl ihrer eigenen Entwicklung als auch der Entwicklung ihrer Freundin. Die Erzählerin ergeht sich aber nicht in endlosen psychologischen Analysen, sie beschränkt sich auf die Fakten und die knappe Beschreibung ihrer eigenen Gefühle. Die Interpretation dessen, was die Geschehnisse für die Mädchen bedeuten und was die Gründe für ihre Handlungen und Entscheidungen sind,  bleibt weitgehend den Leser*innen überlassen, und ich glaube, dass mich die Geschichte genau deshalb so berührt hat. Ein weiteres wichtiges Element sind für mich die rätselhaften Geschehnisse: das Verschwinden von Puppen, das am Anfang der Freundschaft steht, und Lilas Verschwinden im Alter von 66 Jahren. Sie bilden ein Gegengewicht zum betonten Realismus  und verleihen der Erzählung Magie, ohne sie ins Esoterische abgleiten zu lassen. Eva Mattes liefert dabei ein tolles Hörerlebnis, das der Geschichte vollkommen gerecht wird.

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