Selten ist eine Generation schöner gescheitert.

Das Leben des Vernon Subutex | Virginie Despentes besprochen von Sascha am 26. Oktober 2017.

Bewertung: 4 Sterne

„Alles was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht“, lässt Goethe Mephistopheles zu Faust sagen. Dies könnte auch der Leitspruch für Virginie Despentes Bestseller Das Leben des Vernon Subutex gewesen sein. Gleich zu Beginn verliert Vernon seine Pariser Wohnung, weil er für die Mieten seit geraumer Zeit nicht mehr aufkommen kann. Seinen durchaus legendären Plattenladen hat er schon vor Jahren verloren. In der Zwischenzeit hat er davon gelebt, seine Vinyl-Restbestände bei Ebay zu verkaufen. Und in der Not half ihm sein alter Freund Alex Bleach aus, ein berühmter und vermögender Rockmusiker. Nur ist der mittlerweile an einer Überdosis verstorben und nun hat Subutex keine Rücklagen, kein Einkommen und keinen Gönner mehr. Alles was er noch hat, ist eine lange Liste mit ehemaligen Kumpels, Bandkollegen, Partyfreunden und Ex-Liebschaften, die er nun abarbeitet, um eine Zeitlang ein Dach über dem Kopf zu haben. Despentes kostet diese eskalierende Abwärtsspirale genüsslich aus und währenddessen entwirft sie ein (manchmal heillos überspitztes) Sittengemälde und Gesellschaftsdrama der französischen Société.

„Sie [weiß] noch nichts von den Schlägen, die sie irgendwann zerbrechen werden.“

Vernon Subutex Absturz ist letztlich nur die Rahmenhandlung, um die verschiedenen Protagonisten einzuführen – und zu zerlegen. Da gibt es den obligatorischen Rechtsradikalen des Front National, eine junge Muslimin, vielleicht militante Islamistin? Einen Party-, selbst- und kokainsüchtigen Börsenspekulanten, ein brasilianisches transsexuelles Model, eine Pornodarstellerin, einen professionellen Internettroll, das ewige Groupie, letztlich kein Klischee, das Despentes nicht zu bedienen wüsste. Und trotz der Stereotypie (oder vielleicht auch gerade deswegen) sind Despentes Erzählperspektiven herausragend. Tatsächlich nimmt man ihr die unterschiedlichen Charaktere ab. Sie beweist sich nicht nur als hervorragende Beobachterin, sondern auch als Meisterin im Aufbau glaubwürdiger Charaktere.

Das hat allerdings einen Preis. Denn Despentes baut mit Genuss einzelne Szenen und Personen langsam und behutsam wie ein Kartenhaus auf, nur um diese dann um so wirkmächtiger einstürzen zu lassen. Was als traditionelles dramatisches Stilmittel daherkommt, wirkt als dramatische Ironie oder teils als Sarkasmus bitterböse, nutzt sich allerdings auch schnell ab und wird vorhersehbar, zumal die Grenze zum Zynismus mehr als einmal überschritten wird. Im Kern geht es bei Despentes, wie bei so vielen zeitgenössischen Romanen, um Krisenbewältigung durch Sex. Nun könnte man natürlich einwenden, dass es doch eigentlich um Identitäten geht, um Lebenswünsche, -ziele und -träume an denen die Menschen scheitern. Um eine Generation, die in der Nachfolge von Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll geglaubt hat, das Leben bestünde aus einer ewigen Party. Spätestens mit Anfang 40 aber feststellen muss, dass ein Leben doch etwas länger dauert, als mit 20 gedacht, und das nun eine entsprechende Planung hermuss. Ein ewiges Thema, eine Spielart der Midlife-Crisis. Nur warum verbleiben ausschließlich alle Charaktere dann auf der Ebene der Promiskuität?

„Wenn man über 40 ist, gleicht die ganze Welt einer bombardierten Stadt.“

Die Antwort ist so einfach, wie erschütternd und dürfte in der Biographie der Autorin begründet sein. Virginie Despentes wurde als Teenager vergewaltigt und „eine Vergewaltigung, sagt sie, mache besessen“, weshalb Rache und Gewalt in ihren früheren Arbeiten eine wesentliche Rolle einnehmen. Während Gewalt mittlerweile immer weiter an den Rand drängt, bleibt Sex, das Kernelement ihrer Romane. Das Explizite ihrer früheren Tage ist glücklicherweise verschwunden. Der Sex in Das Leben des Vernon Subutex ist ein literarischer geworden und kein pornografischer mehr, wie noch zu Zeiten des Gewaltpornos „Baise Moi“.

Selbst der schlechteste Mensch kann einem guten Zweck dienen. Er kann ein abschreckendes Beispiel geben.

Bei Despentes gibt es keine Helden. Da ist niemand durchweg gut oder sympathisch. Ja, nicht einmal ausgewogen differenziert. Bei Despentes dominiert der nihilistische Hedonismus. Hier zerstört sich nicht nur Vernon Subutex vor unseren Augen, Despentes demontiert sogleich die gesamte französische Gesellschaft der 60er Jahrgänge. Die Realität holt alle irgendwann auf den Boden zurück und in diesem Falle genießt es Despentes, dies stellvertretende an ihren Protagonisten durchzuexerzieren. Despentes lässt niemanden ausbrechen, niemand kann aus seiner Haut, alles bleibt beim Alten, bis zur Zerstörung, bis zum Tod. Es ist ein fatalistischer Roman, ein traditionelles Drama ohne Perspektiven ohne Hoffnung. Das Unvermeidliche wird geschehen, Vernon Subutex, landet unweigerlich auf der Straße. Das einzig Überraschende ist, dass er nicht stirbt. Das wiederum erklärt sich daraus, dass dies lediglich der erste Band einer Trilogie ist. Band zwei und drei befinden sich bereits in der Übersetzung und Band zwei wird im Frühjahr 2018 auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen.

Das Leben des Vernon Subutex ist ein guter Roman, ganz ohne Frage, aber ob es ein grandioser Roman ist, wie das Feuilleton und die Werbung den Hype zu verkaufen versuchen? Für mich ist es zu wenig Innovation und zu sehr das immer Gleiche, das schon Dagewesene. Sex und Übertreibung als Stilmittel hat man schon besser gelesen. Wer allerdings die französische Gesellschaft mag, wer Dramen liebt, wer herausragend gezeichnete Charaktere genießt, wer vielleicht einen Bezug zum Rock der 80er Jahre hat, der wird einen kurzweiligen und äußerst gefälligen Roman erhalten.

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