Ich habe den Herrn Poschenrieder aus den Augen verloren. Ich weiß gar nicht warum, denn sein Debüt „Die Welt ist im Kopf“ hat mich damals wirklich sehr begeistert. Dafür weiß ich nun, dass mir das ganz bestimmt nicht noch einmal passiert, denn auch der Roman „Kind ohne Namen“ hat mich in weiten Teilen überzeugt.
Die Literaturstudentin Xenia kommt zurück in ihr Heimatdorf, zu ihrer Mutter, der ehemaligen Bürgermeisterin, die sich immer noch für Dorf und Dörfler verantwortlich fühlt, und ihrem Bruder, dessen rechtsextreme Meinungen sie nur schwer erträgt. Der Grund für ihre Rückkehr ist eine uneheliche Schwangerschaft, die aber noch nicht sichtbar ist und von der auch noch niemand weiß.
Großes Dorfthema sind die Flüchtlinge, die in der ehemaligen Schule untergebracht werden. Xenia und ihre Mutter heißen sie willkommen, der Rest des Dorfes pöbelt dagegen oder hält sich bedeckt. Ausschreitungen werden nur durch den „Burgherren“ verhindert, der tatsächlich in einer Burg wohnt, die über dem Dorf thront. Beobachtet vom Verfassungsschutz unterhält er heimlich paramilitärische Truppen, lässt sich wenig in die Karten gucken, hat aber scheinbar nahezu alle Dorfbewohner im Griff. Als Preis für seine Hilfe verlangt er das nächste neugeborene ungetaufte Kind…
Was zunächst wie eine literarische Bearbeitung des Flüchtlingsthemas wirkt, entwickelt bald schon märchenhafte Züge. Poschenrieder hat Motive einer Novelle von Jeremias Gotthelf aus dem Jahre 1842 eingebaut: „Die schwarze Spinne“. Dort verlangt der Teufel für eine Hilfeleistung ebenfalls ein ungetauftes Baby und als ihm dieses mehrfach verweigert wird, überschwemmt eine Flut giftiger schwarzer Spinnen das Dorf.
Mit dieser Verknüpfung hat der Autor es sich nicht leicht gemacht. Es hilft bei der Lektüre, die Novelle gelesen zu haben oder wenigstens ihren Inhalt zu kennen, um die fein ausgearbeiteten Parallelen würdigen zu können. Der Text funktioniert auch komplett ohne Vorkenntnisse, aber die Abfolge der Ereignisse wird logischer mit ein wenig Vorwissen.
Damit ist der Roman indessen zum einen hochaktuell, weil er die Flüchtlingsunterbringung in deutschen Gemeinden und die Reaktion darauf klug analysiert und zum anderen eine literarische Spielerei, weil das aktuelle Geschehen wie eine Folie über die ältere Novelle gelegt wird.
Zum dritten aber ist er ein deutliches Statement gegen Ausländerhass, nationalsozialistisches Gedankengut und andere Teufelsideen, von denen man sich dringend wünscht, dass sie in das Loch zurückkehren, aus dem sie gekommen sind. Sinnbild dafür sind die Spinnen, die plötzlich überall auftauchen und ihr Gift verbreiten.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass Poschenrieder mit all dem ein bisschen zuviel für einen einzigen Roman erstrebt hat. Bisweilen ist mir der Text ein wenig zu überladen bzw aufgeladen mit Bedeutung. Das ist aber Jammern auf ganz hohem Niveau. Schlußendlich kann man diesen Roman schon aufgrund seiner Aussage gar nicht oft genug empfehlen und das selbst literarisch Anspruchsvollen, zählt Poschenrieder doch definitiv zur Riege der besten deutschsprachigen Schriftsteller. Also lautet meine Empfehlung: lesen, verschenken, weiter verbreiten und hoffen, dass die Lektüre ein paar Menschen zum Nachdenken und Überdenken festgefahrener Meinungen bringt. Für eine friedvollere Zukunft. (Und eine ohne schwarze Spinnen, bitte.)
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